Der Grundstein für Wolodymyr Selenskyjs Politkarriere: Seine Rolle in der TV-Satire "Diener des Volkes", wo er die Präsidentschaft fiktiv durchspielte.

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Den Krieg der Bilder hat der Kreml bereits verloren – darin sind sich viele westliche Beobachter des russischen Einmarschs in die Ukraine einig. Da ist einerseits ein entrückt wirkender, bald 70-jähriger Wladimir Putin, aufgedunsen, despotisch, die Mimik gefroren, steif in Anzug und Krawatte inszeniert an überlangen Besprechungstafeln oder am schnöden Schreibtisch mit zwei 80er-Jahre-Telefonapparaten in Griffweite, die signalisieren könnten: "Bei Anruf Mord" (Hitchcock-Klassiker).

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Und da ist Wolodymyr Selenskyj, der Präsident der Ukraine, der, seitdem sein Land unter Beschuss steht, den Anzug gegen das olivgrüne Military-Shirt getauscht hat und als 44-jähriger Familienvater und oberster Verteidiger der Freiheit seines Landes den Machismo Putins ganz schön alt aussehen lässt. Während sich der Aggressor auf seinen Apparat gleichgeschalteter Medien verlässt und auf Social Media unnahbar bleibt, setzt Selenskyj offenbar bewusst auf die Instant-Ästhetik des Netzes, die immer leicht improvisiert, vor allem aber ehrlich und von Herzen kommend wirkt.

Mehrmals täglich richtet sich Selenskyj in viral gehenden Videoansprachen an sein Volk und andere Adressaten, auf Ukrainisch und Russisch, kämpferisch und entschlossen. Auf ein Angebot der Amerikaner, ihn aus Kiew herauszuholen, antwortete er, er brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit; und das, obwohl er nicht wisse, wie lange es sein Land noch geben werde und wie lange er als Ziel Nummer eins noch leben werde.

Selenskyj erntete für seine flammende Rede im EU-Parlament stehende Ovationen.
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"Jeder Quadratzentimeter, jeder Platz unseres Landes wird jetzt in Zukunft Freiheitsplatz genannt werden!", sagte Selenskyj in einer im EU-Parlament zugespielten Rede, die er mit einem Lächeln und gereckter Faust beendete. Bleiben werden auch die Bilder des aktionistisch im Stehen und auf einem hastig herbeigeschafft wirkenden Billigtisch unterschriebenen EU-Beitrittsgesuchs. Nicht nur das EU-Parlament, auch US-Politiker beider Lager applaudieren ob des so zur Schau gestellten Heroismus, erinnert all das doch an archetypische Szenen, wie sie das Hollywoodkino tief im kulturellen Unterbewusstsein verankert hat.

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TV-geschulte Inszenierungskunst

Die Inszenierungskunst des Wolodymyr Selenskyj beruht dabei auf seiner Biografie, die in Teilen tatsächlich aus einem Drehbuch stammt. Geboren in eine russischsprachige jüdische Familie, die Holocaust-Opfer zu beklagen hatte – das allein sollte wohl die Putin'sche Erzählung vom Nazi an der Spitze der Ukraine widerlegen –, wurde Selenskyj als Hauptdarsteller und Mitproduzent der ukrainischen TV-Satireserie "Diener des Volkes" in der Ukraine schlagartig populär.

Produziert wurde sie 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion durch Russland, und ausgestrahlt in drei Staffeln bis 2019 auf dem ukrainischen Sender 1+1. Selenskyj spielt darin den Geschichtelehrer Wassyl "Wasja" Holoborodko, dessen Wutrede auf den korrupten Staat zunächst zum Youtube-Hit mutiert, während er selbst später, via Crowdfunding finanziert, zum neuen ukrainischen Präsidenten gewählt wird.

"Diener des Volkes" blickt als eine Art satirische Fassung von "House of Cards" tief in die Seele der ukrainischen Bevölkerung und seiner Politikerkaste.
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Als zunächst belächelter Dilettant im Amt macht er sich auf ungewöhnliche Art daran, das korruptionsdurchseuchte Land vom Würgegriff einer abgehobenen Politkaste ("Wir haben immer die Wahl zwischen Pest und Cholera") zu befreien. Seine Gegenspieler sind die Oligarchen des Landes, die versuchen, ihn entweder auf Linie zu bringen oder ganz loszuwerden. Holoborodko übersteht Bestechungsversuche, Sexfallen samt Lockvogel (echte Oligarchin!) und sogar einen Mordanschlag.

Als Reformer wirkt der idealistische Kauz ein bisschen wie Papst Franziskus im Vatikan. Beim Versuch, bei seinen unterwürfigen und desillusionierten Landsleuten neue Begeisterung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu wecken, fängt er bei sich selbst und der eigenen Familie an. Nur einmal verspekuliert er sich und nimmt nach einer durchzechten Nacht einen Kredit des IWF zu viel auf.

Der einfache Geschichtelehrer Wassyl "Wasja" Holoborodko wird in "Diener des Volkes" unversehens zum Präsidenten gewählt und versucht, das Land zu reformieren.
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"Diener des Volkes" ist eine gut gemachte, politisch kluge Satirefassung von "House of Cards", die auch Staaten des Westens etwas zu sagen hat. Putin kommt darin nur am Rande vor. Etwa wenn Holoborodko eine aufgebrachte Menge mit dem Witz "Putin wurde gestürzt" schlagartig zum Schweigen bringt ("Funktioniert immer!").

Ikone wider Willen

Bei manchen Szenen bleibt einem vor dem aktuellen Hintergrund allerdings auch das Lachen im Hals stecken. Wenn Holoborodko einen freudigen Anruf Angela Merkels über die EU-Aufnahme bekommt, sie sich dann aber doch verwählt hat und eigentlich Montenegro gratulieren wollte. Oder wenn man Holoborodko einen Doppelgänger so vorstellt: "Der weiht Gebäude ein, trinkt mit Lukaschenko und stirbt an Ihrer Stelle. Aber so weit wird es nicht kommen."

In einer der Schlussszenen der ersten Staffel erscheint Holoborodko in einer Vision schließlich Iwan der Schreckliche, der ihm rät, Köpfe abzuhacken und Zungen herauszureißen, um gegen korrupte Landsleute vorzugehen. "Bleibt tapfer, Blutsbrüder, bald schon befreien wir euch", sagt Iwan. Und Holoborodko erwidert: "Nein danke, wir müssen nicht befreit werden. Wir gehören zu Europa. Sie gehen einen Weg, wir gehen einen anderen. Wir gehen getrennte Wege und treffen uns in 300 Jahren wieder. "

Selenskyj als realer Politiker 2020 bei einem Staatsbesuch in Österreich mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
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Die Popularität seiner Serienrolle hievte Selenskyj schließlich 2019 tatsächlich ins Präsidentenamt – finanziert nicht durch Crowdfunding, wohlgemerkt, sondern durch die Unterstützung des Mehrheitseigentümers des Senders 1+1, des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, Putin-Gegner zwar, aber selbst wahrlich kein Friedensapostel, da er etwa eine private Schlägertruppe unterhält.

Im Amt wahrte Selenskyj Distanz zu Kolomojskyj, boxte sogar ein Gesetz durch, das die Macht der Oligarchen beschränken soll. Selbst hingegen soll er an einer Briefkastenfirma in einer Steueroase beteiligt gewesen sein, was man damit erklärte, dass den korrupten Regierungen vor ihm kein Steuergeld zugeführt werden sollte – eine recht fragwürdige Sichtweise.

Auf der symbolpolitischen Ebene agiert Selenskyj wie in seinem Drehbuch und weiß etwa, dass man auch mit demonstrativer Bescheidenheit punkten kann, wenn er sagt: "Ich möchte kein Bild von mir als Präsidenten in euren Büros. Der Präsident ist keine Ikone, kein Idol. Hängt stattdessen Fotos von euren Kindern auf und schaut darauf, wenn ihr eine Entscheidung trefft."

In "Diener des Volkes" gibt es im Kreml am Ende tatsächlich einen Machtwechsel. Mehr noch als Panzer sind es solche Erzählungen, die die Geschichte prägen, betonte unlängst der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Putin werde diese Schlacht wohl gewinnen, meint er, aber den Krieg um eine eigenständige ukrainische Nation werde er verlieren. (Stefan Weiss, 4.3.2022)