"Wach auf. Wach auf. Schnell". An diese Worte erinnert sich Wiktoria Litwin noch genau. Es war der 24. Februar früh morgens, als ein Freund anrief und sie aus dem Schlaf riss.

Der russische Machthaber Wladimir Putin hatte gerade der Ukraine den Krieg erklärt. Litwin machte den Fernseher an, konnte es nicht fassen: Putin lässt das Nachbarland, das gerade einmal 35 Kilometer entfernt ist, wirklich angreifen. Litwin lebt in Belgorod, im Südwesten Russlands.

Keine drei Stunden später stand sie auf dem Sobornaja Platz im Zentrum ihrer Heimatstadt. In beiden Händen hielt sie ein Plakat, "Kein Krieg" stand da in Rot, und in Blau: "Ich schweige nicht". Dazu die Fragen "Wo ist die Stabilität? Oder werden wir nun stabil Explosionen erleben?" Anspielungen auf Putins Versprechen, für Stabilität in Russland zu sorgen. Dieses Versprechen, glaubt Litwin, dürfte sich mit dem Einmarsch in die Ukraine erledigt haben.

Die gerade einmal 16-Jährige war eine der Ersten, die in der Stadt gegen Putins Einmarsch in das Nachbarland protestierte – und eine der wenigen, die sich das in dieser ersten Woche des Kriegs überhaupt getraut haben.

Die ukrainische Grenze ist nah, 70 Kilometer von Belgorod entfernt liegt die Großstadt Charkiw, die gerade unter heftigen Angriffen steht. Viele Menschen aus Belgorod haben Verwandte drüben, sind oft in die Ukraine zum Einkaufen gefahren oder, wie Litwin als Kind, in den Aquapark der benachbarten Großstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern. Belgorod ist kleiner, hat nicht mal ein Drittel so viele Einwohner.

Wiktoria Litwin, Schülerin und Bloggerin.
Foto: Jewgenij Kondakow / DER SPIEGEL

Doch seit Russland 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und im Donbass mit prorussischen Kämpfern einen Krieg begann, sind viele der Russinnen und Russen nicht mehr drüben gewesen. Russische Männer durften in den letzten Jahren kaum noch in die Ukraine einreisen.

Das schlimmste sei, dass viele Menschen in Belgorod so tun würden, als passiere nichts, sagt Litwin. Dabei sind ständig die Kampfjets zu hören, die über die Stadt Richtung Ukraine fliegen. Militärfahrzeuge mit einem aufgemalten "Z" fahren vorbei – der Buchstabe steht wohl für "Zapad" – Westen, einer der Militärbezirke Russlands.

"Einfach nur furchtbar"

Litwin sitzt in einem Café in der Innenstadt, redet schnell und laut, gestikuliert mit den Händen, schiebt ihre große Brille höher auf die Nase. Sie wirkt älter als ihre 16 Jahre. Darauf angesprochen, lacht sie. Das höre sie nicht zum ersten Mal, sagt die Schülerin und Bloggerin, die sich für Stadtentwicklung interessiert, über Ereignisse in ihrer Stadt auf Telegram berichtet.

Ein Militärlastwagen mit einem Panzer auf dem Weg Richtung ukrainische Grenze.
Foto: Jewgenij Kondakow / DER SPIEGEL

Die meisten Menschen in der Region würden leider den Krieg unterstützen. Der darf so nicht genannt werden, Kreml und Staatsmedien sprechen von einer "Sonderoperation" zum Schutz der Menschen im Donbass, die Frieden bringen solle.

Kritische unabhängige Medien, die von "Krieg" und "Angriff" berichten, werden massiv unter Druck gesetzt. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hat den Zugang zu Medien blockiert, darunter auch den Online-TV-Kanal Doschd und Radiosender Echo Moskwy, zwei der letzten großen unabhängigen Medien in Russland. Echo Moskwy wurde inzwischen aufgelöst. Journalistinnen und Journalisten verlassen das Land.

"Warum behandeln wir unsere Nachbarn so? Nur, weil eine Grenze zwischen uns ist? Das sind doch Menschen wie wir!", sagt Litwin. "Wie kann Krieg Frieden bringen? Ich verstehe es einfach nicht."

Die Bilder, die die junge Frau jeden Tag aus Charkiw sieht, nennt sie "einfach nur furchtbar": das zerbombte Gebäude der Stadtverwaltung, zerstörte Wohnhäuser, ausgebrannte Autos. Dazu die Berichte von Toten und Verletzten. Und das alles, weil Putin die Ukraine "entnazifizieren" wolle? Welche "Nazis?", fragt Litwin, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei doch Jude.

"Wir möchten nicht darüber nachdenken."

Natürlich habe sie Angst gehabt zu protestieren, sagt Litwin. Aber was sollten die Menschen in der Ukraine ein paar Kilometer weiter sagen, die Schüsse, Einschläge und Explosionen erleben müssen? "Die haben sehr viel mehr Angst." Nachts könne sie kaum schlafen, Kampfflugzeuge donnern über die Stadt, sie nimmt Audiofiles auf, postet sie auf Telegram.

Viele Menschen in Belgorod wollen nicht über das reden, was wenige Kilometer weiter passiert, winken ab, wenn man sie auf der Straße anspricht. Es wirkt, als versuche die Stadt, den Krieg zu verdrängen.

"Wir möchten nicht darüber nachdenken", sagt eine junge Frau in der Fußgängerzone, sie mag Anfang 20 sein. Schnell läuft sie mit einer Freundin weiter. Dabei ist das Grollen am Himmel nicht überhörbar. "Das ist weit über uns, alles andere geschieht weit weg", sagt ein Mann, etwa 50 Jahre alt, eine schwarze Schiebermütze auf dem Kopf. "Hier ist alles normal."

Verletzte Soldaten, Kartons voller Äpfel

Auf der vierspurigen Schnellstraße Richtung ukrainische Grenze ist kaum Verkehr unterwegs, irgendwann versperren Polizisten mit Maschinengewehren und maskierte Männer den Weg. Von hier an, etwa zwölf Kilometer vor der Grenze, geht es für die meisten nicht mehr weiter: Anwohner der Dörfer hinter dem Kontrollpunkt müssen in ihren Autos warten, bis sie irgendwann von den Sicherheitsbeamten durchgewunken werden.

Nur Fahrzeuge der Armee passieren im hohen Tempo den Kontrollposten, gepanzerte olivgrüne Fahrzeuge, Transporter mit Panzern, Tankwagen, viele ohne Kennzeichnen, aber mit weißen »Z«-Aufklebern.

Mehrere Militärfahrzeuge sind mit weißer Farbe besprüht, noch liegt Schnee auf den Feldern der Region. Weiterhin sind Militärkolonnen in der Region unterwegs. CNN filmte zuletzt einen TOS-1-Mehrfachraketenwerfer auf einem Armeelastwagen. Die Raketen sind ausgerüstet mit thermobarischen Sprengköpfen, die in einem riesigen Feuerball explodieren und einen Unterdruck erzeugen. Eine grausame Waffe.

Plötzlich ertönen Sirenen, ein weiß-roter Krankenwagen, beklebt mit dem "Z", rast von Grenzseite heran. Am Steuer ein Soldat in Uniform und Helm. Die Tür geht auf, Männer heben zwei verletzte Soldaten von einer Liege auf eine andere, die in eine wartende zivile Ambulanz geschoben wird und dann mit Blaulicht Richtung Belgorod losfährt. Nach fast einer Woche Krieg meldet das Verteidigungsministerium am Mittwoch rund 500 getötete Soldaten, fast 1600 Verwundete. Militärexperten glauben, dass es weit mehr sein könnten.

Kontrollposten etwa 12 Kilometer vor der Grenze zur Ukraine: Verletzte Soldaten werden übergeben.
Foto: Jewgenij Kondakow / DER SPIEGEL

In einiger Entfernung stehen an einem Feld Frauen im kalten Winterwind. Ein paar tragen neongelbe Westen über den Jacken, alle haben Mützen und Kapuzen auf. Zwischen ihnen stehen Kartons voller Äpfel, Plastikbehälter mit Trinkwasser, Flaschen mit Limonade, Supermarkt-Tüten voller Lebensmittel, Feuchttücher. "Wir werden nicht mit Ihnen sprechen!", rufen die Frauen. »Gehen Sie!«. Ein Mann in Tarnkleidung fotografiert das Team des SPIEGEL.

Später am Tag wird klar, warum: Ein Militärjeep mit "Z"-Markierung parkt am Straßenrand, der Innenraum ist bis an die Decke voll mit Supermarkt-Tüten, zwei Soldaten tragen Wasser-Behälter zum Fahrzeug. Es scheint, als sei die Versorgung der russischen Soldaten an der Front nicht die beste.

"Da kracht es, dort kracht es. Furchtbar"

Fährt man die Straße parallel zur Grenze entlang weiter, steigen in einiger Entfernung weiße Rauchsäulen am Himmel auf – Spuren von Raketen, die Richtung Ukraine abgefeuert wurden.

Kampfjets sind hier zu sehen, so tief fliegen sie, auch Kampfhubschrauber sind unterwegs Richtung Ukraine. In einer Senke bildet sich ein kleiner Stau, eine Panzerhaubitze liegt hinter einer Leitplanke am Wegesrand, als ob sie von einem Lastwagen gekippt wäre. Eine Gruppe von Männern versucht sie gerade auf einen Transporter zu hieven.

In den Dörfern zwischen großen Feldern und Hühnerställen sind kaum Autos und Menschen unterwegs. In der Ortschaft Nikolskoje steht eine Frau mit Pelzmütze und dicken Stiefeln vor einem gelben Backsteinbau mit Geschäften, Friseur und Apotheke und verkauft Äpfel, Möhren, Zwiebeln. "Da kracht es, dort kracht es. Furchtbar", sagt sie leise. Mehr will sie nicht sagen.

"Das russische Volk ist schwer zu brechen."

Wenige Meter weiter gestikuliert Jurij Brataschew, 89, mit seinem Gehstock herum. Natürlich unterstütze er Putins Militäroperation, der habe vieles von dem gut gemacht, was Boris Jelzin mit dem Zerfall der Sowjetunion dem Land eingebrockt habe. Das Wort Krieg will er nicht gelten lassen. "Was für ein Krieg?", fragt der Rentner. Er erzählt von der Asche seines 1942 gefallenen Vaters. Dann ruft er plötzlich: "Die sollen uns das Gas zurückgeben, schicken wir es nach China." Gemeint sind die EU-Staaten.

Michail, 38, Schokolade und Zigaretten in den Händen, eine Flasche Wodka unter dem Arm, kommt dazu, lässt sich aber erst einmal die Presse-Akkreditierung des Außenministeriums zeigen. Viele der Berichte westlicher Medien seien "nicht glaubwürdig", sagt er. Der Westen führe einen Informationskrieg gegen Russland, sperre Google und YouTube, behaupte, Russland habe die Ukraine als Erstes angegriffen. Dabei sei es doch die Ukraine, die ihr Militär an der Grenze zusammengezogen habe, behauptet er. Michail klingt wie einer der Gäste in einer der Polittalkshows im Staatsfernsehen, in denen die Ukraine mehr und mehr verunglimpft wird.

Peking habe sich noch nicht offiziell mit Moskau verbündet, das werde aber kommen, glaubt Michail. "Ja", ruft Rentner Brataschew rein, fuchtelt weiter mit seinem Gehstock umher. "Jetzt sehen wir die Sanktionen Europas, aber wir werden es überleben, Russland steht auf eigenen Beinen", sagt Michail.

Macht er sich keine Sorgen um den Rubel, dessen Kurs seit Beginn der Invasion abgestürzt ist? "Ich lebe hier, vom Rubel, nicht vom Dollar. Amerika ist mir herzlich egal." Betroffen seien doch vor allem die Oligarchen, die "sehr viel Kohle" hätten. Rentner Brataschew lacht laut auf. Putin tue jetzt alles für Russlands Unabhängigkeit, glauben die beiden Männer. "Das russische Volk ist schwer zu brechen", sagt Michail. Wenn er in der Ukraine kämpfen solle, stehe er bereit.

Rentner Jurij Brataschew.
Foto: Jewgenij Kondakow / DER SPIEGEL

Im "Nebel des Schocks"

Die Propaganda des Kreml funktioniere leider allzu gut, sagt Wiktoria Litwin in Belgorod. Einer aktuellen Umfrage des staatlichen Meinungsumfrageinstituts Wziom zufolge unterstützen 68 Prozent der Russinnen und Russen Putins "Militäroperation" in der Ukraine. Warum diese notwendig sei, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Im Stadtzentrum sagt ein Mann, 70, die Ukraine hätte Russland angegriffen, ein anderer, 62 Jahre, die russischsprachige Bevölkerung in den Gebieten der prorussischen Separatisten müsse gerettet werden. Litwin spricht vom "Nebel des Schocks", der bei vielen Menschen noch herrsche, viele verstünden die Lage nicht.

In vier Vororten von Belgorod wurden seit Beginn der russischen Militäroperation Explosionen gemeldet, mehrere Häuser beschädigt. Was genau die Ursache war, ist unklar, die Behörden halten sich bedeckt. Menschen erzählen, es seien ukrainische Raketenteile gewesen. An der Version gibt es aber Zweifel, wie die Kremlkritische "Nowaja Gazeta" berichtet. Militärexperten glaubten, es handele sich höchstwahrscheinlich um Fragmente russischer Raketen.

In den sozialen Medien würde manch ein Kriegsunterstützer jetzt sogar fordern, die Ukraine anzuzünden, sagt die 16-jährige Litwin. "Wie können sie nur? Ich könnte weinen, schreien." Und dann die russischen Soldaten in den Armeetransportern, "wirklich junge Kerle", gerade einmal Anfang 20 Jahre alt, sie täten ihr leid. "Wahnsinn" sei das alles.

Denken an die Zukunft

Auf dem Sobornaja-Platz im Zentrum von Belgorod tauchten einige Tage nach dem Protest der jungen Frau Männer auf, die schwarze Flaggen mit einem weißen "Z" darauf schwenkten, eine Unterstützeraktion für Putins Einmarsch in die Ukraine. Folgen hatte diese Demonstration nicht – anders als bei Litwin, die wegen ihres Protests mit ihrer Mutter zur Polizei zitiert wurde. Sie solle an ihre Zukunft denken, ihre Mutter besser auf sie aufpassen, sei sie gewarnt worden, erzählt sie. Die Mutter sagt, ihre Tochter habe gegen keine Gesetze verstoßen. Einzeln dürfe man in Russland nach wie vor demonstrieren.

Ob sie eine Zukunft für sich in Russland sehe? "Nein", sagt Litwin. Ausreisen wolle sie aber nicht. Sie will erst einmal ihre Schule beenden und weiter versuchen, etwas in ihrer Heimatstadt zu bewirken, sagt die 16-Jährige auf dem Weg zu einer nahegelegenen Bushaltestelle. Das sei in den vergangenen Monaten immer schwerer geworden, die Repressionen hätten zugenommen: Ein Freund, der im vergangenen Jahr an einer Kundgebung für die Freilassung des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny teilnahm, sei danach zur Armee eingezogen worden. Wo der Freund nun sei, ob auch in der Ukraine, sie wisse es nicht. Andere Bekannte hätten das Land schon verlassen.

Auf die Frage, was jetzt mit dem Krieg noch alles komme, sagt Litwin zum Abschied an einer Kreuzung: "Nichts Gutes". Ein Armeetransporter mit großen weißen "Z"-Aufklebern fährt an ihr vorbei. (Christina Hebel und Jewgenij Kondakow (Fotos), 4.3.2022)