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Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich haben stark auf russisches Pipelinegas gesetzt.

Foto: Reuters / Anton Vaganov

Es war Donnerstag, kurz vor acht Uhr früh, als eine Agenturmeldung für morgendliche Hektik in Europa sorgte. "Kein Gas kommt über Yamal", lautete in Kurzform die Nachricht. Dazu muss man wissen, dass im Normalfall etwa 15 Prozent der russischen Gasexporte nach Europa über die Yamal-Pipeline durch Belarus und Polen nach Deutschland gehen. Aber was ist schon normal in Zeiten wie diesen.

Selbst gestandene Gasleute waren irritiert, als sie die Transportdaten zu Gesicht bekamen. Weniger Gas, das kommt vor; Schwankungen bei Gasmengen gibt es immer wieder. Aber gar kein Gas am Übergabepunkt an der deutsch-polnischen Grenze, das war alarmierend. Dabei gab es eine simple Erklärung, wie sich kurz darauf herausstellte.

In den Tagen davor ist Gas von Deutschland nach Polen geflossen. Im Laufe der Nacht ist die Flussrichtung aufgrund entsprechender Bestellungen dann umgedreht worden, das Gas floss wieder von Ost nach West. Für einen kurzen Moment sprang die Anzeige bei der Verdichterstation Mallnow auf null.

Angespannte Lage

Dieser Vorfall zeigt, wie angespannt im Moment alle sind, nicht nur im Kriegsgebiet, auch auf den Gasmärkten. Winzigste Unstimmigkeiten, das kleinste Gerücht verbreiten sich in Windeseile. Auch weil es weitreichende Folgen hätte, wenn es sich als richtig herausstellen sollte, dass tatsächlich kein Gas mehr kommt.

An die 40 Prozent des in Europa verbrauchten Erdgases stammen aus Sibirien, Österreich ist mit 80 Prozent noch um einiges verwundbarer. Freitagmorgen gab es erneut Alarm, wieder Yamal betreffend. Das Dementi der russischen Gazprom, am Gashahn gedreht zu haben, folgte auf dem Fuß. Wieder war die Umkehr der Flussrichtung Grund für die kurze Irritation.

Spätestens mit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ist allen Verantwortlichen schlagartig klar geworden, in welch unverantwortliche, ja gefährliche Abhängigkeit sich Europa, insbesondere aber Österreich, mit der einseitigen Ausrichtung beim Energieeinkauf auf Russland hineinmanövriert hat.

Nehammer reist in die Vereinigten Arabischen Emirate

Nun ist man fieberhaft auf der Suche nach Alternativen. Am Samstag kündigte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) an, Sonntag und Montag mit Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) und Rohstoffministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) in die Vereinigten Arabischen Emirate zu reisen. Flüssiggas (LNG) aus den Golfemiraten für Österreich – darum soll es gehen. Am Sonntag will Köstinger außerdem in Abu Dhabi mit dem Industrieminister der VAE, Sultan Bin Ahmad Sultan Al Jaber, eine Absichtserklärung über eine Zusammenarbeit im Bereich Grüner Wasserstoff unterzeichnen.

Energie ist die Achillesferse Europas. Es gibt zwar Öl und Gas in der Nordsee, aber nicht mehr allzu viel. Es gab bis vor einigen Jahren noch viel Gas in den Niederlanden, das nun zur Neige geht. Es gibt größere Mengen fossiler Brennstoffe in Rumänien, Gas vor allem offshore im Schwarzen Meer. Diese Vorkommen, auf die auch die heimische OMV über ihre Tochter Petrom ein Auge hat, warten aber noch darauf, erschlossen zu werden. Österreich kann nur mehr neun Prozent des Bedarfs durch die Inlandsproduktion decken – Tendenz stark fallend.

Flüssiggas als Option

Nur Japan ist als große Industrienation noch abhängiger von Importen als Europa. Im Gegensatz aber zu Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich, die so stark auf russisches Pipelinegas gesetzt haben, ist Japan aufgrund der Insellage stark von Flüssiggaslieferungen abhängig, hat dafür aber einen breiten Strauß an Lieferanten an der Hand.

Liquified Natural Gas (LNG), wie das bei minus 162 Grad in flüssigem Aggregatzustand überführte und in Spezialtankern verschiffte Gas im Fachterminus heißt, ist die Option schlechthin für Europa, um kurzfristig die Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu verringern. Aber könnten tatsächlich substanzielle Mengen ersetzt werden?

2021 belief sich der weltweite LNG-Handel laut einer Studie der Brüsseler Denkfabrik Bruegel auf 5400 Terawattstunden (TWh). Um ein Gefühl zu bekommen, wie viel das ist: In den Speichern, die an das österreichische Gasnetz angeschlossen sind, befinden sich noch rund eine Milliarde Kubikmeter, was etwa 16 TWh und einem Füllstand von 17 Prozent entspricht.

Eingeschränkte Einkaufschancen

Das gehandelte LNG ist auf den ersten Blick ganz schön viel. Das meiste ist aber in zehn- bis 15-jährigen Verträgen langfristig vergeben. Und – was oft übersehen wird: Neun Prozent des globalen LNG stammen aus russischer Produktion, was die potenziellen Einkaufschancen für Europa weiter einschränkt.

Die wichtigsten Exportländer bei LNG sind Australien, Katar und die USA, die im Vorjahr aufgrund von vielem Frackinggas und massiven Investitionen in Verladeterminals zur größten Exportnation bei Flüssiggas aufgestiegen sind. Heuer rechnen Experten mit einem Anstieg der weltweiten Produktion um 63 TWh bis 300 TWh, das wäre ein Zuwachs um 1,2 Prozent bis 5,5 Prozent gegenüber dem Jahr 2021.

Wie ist es aber um die für den LNG-Transport notwendigen Schiffe bestellt? Nach Erhebungen des Brüsseler Thinktanks Bruegel gibt es mehr als 600 Spezialtanker, die Gas in die ganze Welt transportieren. Die Internationale Energieagentur (IEA) rechnet, dass die Charterraten für frei am Markt gehandelte Flüssiggasmengen heuer um rund zehn Prozent unter dem Durchschnitt von 2021 liegen werden, weil im Vorjahr 50 neue LNG-Tanker in Dienst gestellt wurden und heuer 30 weitere erwartet werden.

Terminals notwendig

LNG-Schiffe scheinen nicht das Nadelöhr zu sein, zumal Tanker, die aus den USA kommend bis vor kurzem noch nach Asien unterwegs waren, verstärkt Kurs auf Europa nehmen. Grund: die stark gestiegenen Preise bei uns und auch eine wegen der vergleichsweise milden Witterung niedrigere Nachfrage in Asien. Weil der Weg nach Europa deutlich kürzer ist als nach Asien, schaffen sie mehr Ladungen, das heißt, die Kapazität steigt.

Um LNG in Europa in Empfang zu nehmen, in Gas umzuwandeln und in Pipelines einzuspeisen, braucht es eine entsprechende Infrastruktur in Küstennähe. In Europa gibt es an die 30 LNG-Terminals, die meisten in Spanien; Deutschland hat noch kein einziges, will nun aber rasch nachziehen.

Die Kapazität aller Terminals zusammen beläuft sich auf etwa 166 Milliarden Kubikmeter, damit könnte in der EU kurzfristig bestenfalls 40 Prozent des russischen Gases ersetzt werden.

Rennen um freie Mengen

Nun ist ein Rennen um freie LNG-Mengen im Gang. Walter Boltz, früherer Chef der E-Control und noch immer bestens vernetzt in der Gaswelt, plädiert für Schnelligkeit. Österreich sei gut beraten, so rasch wie möglich LNG zu kaufen, einzuspeichern und so für den kommenden Winter vorzusorgen. Bis die EU in dieser Sache so weit sei, vergehe zu viel Zeit, meint er.

Tatsächlich kann es sein, dass LNG-Tanker, die zuletzt vermehrt Kurs auf Europa genommen haben, bald wieder verstärkt nach Asien schippern, wenn der Bedarf dort entsprechend stark steigt. "Und die bezahlen immer mehr als wir, weil sie keine Alternative haben," sagte Energieexperte Johannes Benigni vor einigen Tagen dem STANDARD. Sehr viele Alternativen bleiben Europa kurzfristig aber auch nicht. (Günther Strobl, 6.3.2022)