Alltagstauglichkeit ist für die Kunst nicht so wichtig: Hans-Walter Müller, ein Architekt der Lüfte.

Joel Robine © Hans-Walter Müller / M.-F. Vesperini

Innsbruck – Hans-Walter Müllers Königreich der Lüfte liegt sinnigerweise am Rande eines Flugfelds in La Ferté-Alais bei Paris. Vor fünfzig Jahren hat sich der Architekt, Ingenieur und Künstler dort niedergelassen und sich ein Atelierhaus aus Luft gebaut. Seither lebt der 1935 im deutschen Worms Geborene unter einer aufblasbaren Kunststoffkuppel, tüftelt an Lösungen für den Luftaustausch, an neuartigen Befestigungssystemen und an aufblasbaren Klangstrukturen.

Das Gelände ist längst zum Gesamtkunstwerk geworden, vor zwei Jahren wollte der französische Staat es sogar unter Schutz stellen, doch Müller hat dankend abgelehnt: Mit ihm selbst müsse auch sein Haus vergehen.

Was nicht bedeutet, dass Müller diesem Haus nicht größtmögliche Zuneigung angedeihen lässt. Seine aufblasbaren Architekturen würden eigentlich wie der menschliche Organismus funktionieren, sagt er. "Und während der Arzt bei uns den Puls misst, messe ich in meinen Architekturen den Druck."

Notunterkünfte

Ich habe die Schwerkraft schon verlassen heißt das bezaubernde Filmporträt von Lukas Schaller, das jetzt in der gleichnamigen Ausstellung im Tiroler Architekturzentrum Aut zu sehen ist.

Müller ist mittlerweile 86 Jahre alt und hat eine mehr als sechs Meter hohe pneumatische Struktur für das ehemalige Sudhaus von Lois Welzenbacher entworfen. "TonLift" heißt diese Kombination aus zwei Volumen mit unterschiedlichen Druckverhältnissen, in der auch der Klang eine Rolle spielt. Müller hat die aufblasbare Architektur nicht erfunden, aber das Thema seit den 1960er-Jahren so konsequent weiterverfolgt und erforscht wie kein anderer.

Seine Arbeit vergleicht er gerne mit der eines Couturiers, der sein Material auswählt, Schnittmuster entwirft und so Räume erschafft, die schon unterschiedlichste Funktionen innehatten: vom mobilen Theatersaal bis zur Notunterkunft für Obdachlose.

In den 1960er- und 1970er-Jahren hat das Aufkommen neuer Kunststoffmaterialien dem Bauen mit Luft buchstäblich Auftrieb gegeben. In utopischen Architekturkonzeptionen wurde das Verhältnis zwischen Körper und Raum erforscht, aufblasbare Objekte und Designentwürfe sorgten für Aufsehen.

Bauen mit Luft

Auch Müller ist in den 1960er-Jahren in den Sog des Bauens mit Luft geraten, es ging ihm zunächst aber in erster Linie um die kinetische Kunst und darum, bewegliche Volumen für seine Projektionen zu entwerfen. Doch bald begann ihn das Thema auch über die kinetische Kunst hinaus zu interessieren. "In dem Moment, in dem man Luft in eine Hülle bläst, ist das spektakulär", sagt Müller.

Um das Spektakuläre allein geht es ihm aber nicht. Als ein Pfarrer ohne eigene Kirche Müller 1969 mit der Gestaltung eines Kirchenfestes beauftragen wollte, war das, sagt der Künstler, "die Gelegenheit, meinen pneumatischen Strukturen eine architektonische Glaubwürdigkeit zu verleihen".

Müller entwarf also eine Kirche: kaum vierzig Kilogramm schwer und in zehn Minuten aufblasbar. Müller arbeitete auch für und mit Künstlern wie Jean Dubuffet oder Salvador Dalí; für Letzteren schuf er 1979 die "Salle molle et réspirante" im Pariser Centre Pompidou und weiß zu berichten, dass der notorische Exzentriker Dalí eigentlich ein durchaus umgänglicher Zeitgenosse war.

Mit heute 86 Jahren tänzelt Hans-Walter Müller übrigens bemerkenswert leichtfüßig durch seine Welt der aufblasbaren Architektur. Womöglich ist an dem Mann ja doch der Tänzer verlorengegangen, der er in jungen Jahren einmal werden wollte. Dem Vorbild des Vaters folgend entschied er sich dann aber für ein Architekturstudium.

Magie und Bewegung

Und trat nebenbei als Zauberkünstler namens Petrini auf deutschen Kleinstadtbühnen auf. Am Ende sind seine vielen Leidenschaften beim Bauen mit Luft zusammengekommen: Magie und Bewegung, Ingenieurskunst und physikalisches Gesetz. Warum aufblasbare Strukturen? "Weil sie uns in eine andere Welt entführen, uns zum Nachdenken und anregen, uns vergessen lassen, was wir in der Schule gelernt haben", sagt Müller. "Damit wir wieder wir selbst werden können."

Die Innsbrucker Ausstellung gibt zusätzlich anhand von Filmen und Fotografien inspirierende Anleitungen dafür. (Ivona Jelcic, 5.3.2022)