Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Welt in die gefährlichste Lage seit 1945 gebracht – gefährlicher als alle Konfrontationen der Supermächte im Kalten Krieg. Damals führten USA und Sowjetunion ein geopolitisches Schachspiel mit Atomwaffen auf dem Brett, in dem sie kühl ihre Interessen verfolgten. Heute aber kann man sich nicht sicher sein, ob Wladimir Putin rational denkt und handelt.
Das bringt die USA, die EU und die Nato in ein furchtbares Dilemma. Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014, eigentlich seit dem Krieg gegen Georgien 2008, hat die Welt eine Lektion gelernt: Putin legt jede Art der Beschwichtigung – seien es Zugeständnisse oder nur Wegschauen – als Schwäche aus, was ihn zu weiteren Aggressionen verleitet. Daher muss man ihm mit Stärke und Konsequenz entgegentreten.

Dies hat der Westen seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs auch getan. Die Geschlossenheit der Regierungen und der Öffentlichkeit ist beeindruckend, die Kraft der Wirtschaftssanktionen ebenso. Die Welt steht solidarisch hinter den ukrainischen Verteidigern und unterstützt sie mit der Lieferung moderner Waffen. Aber gerade weil diese Antwort so unerwartet deutlich ausfällt, erwächst nun eine neue Furcht: Wird Putin, wenn er in die Enge getrieben wird, den Einsatz erhöhen?
In der Ukraine selbst ist das bereits zu sehen: Angesichts der geringen militärischen Erfolge der ersten Kriegswoche greift die russische Armee immer ungehemmter zivile Ziele an und legt ganze Städte in Schutt und Asche. Aber was passiert, wenn Putin den ukrainischen Widerstand nicht brechen kann und in Russland der Unmut über Wirtschaftskrise und Todesopfer explodiert? Greift er dann Georgien und Moldau an, die anderen beiden Ex-Sowjetrepubliken, auf deren Staatsgebiet russische Truppen stehen? Trägt er den Krieg in das Gebiet der Nato hinein, um etwa Waffenlieferungen von dort zu stoppen? Entschließt er sich gar zu einem Atomschlag, damit mit ihm die ganze Welt untergeht?
Diplomatische Herausforderung
Wie man Putin die Folgen seiner kriminellen Fehler spüren lassen kann, ohne ihn unnötig zu reizen, ist die größte diplomatische Herausforderung der Gegenwart. Putin darf nicht siegen, aber er muss in der Niederlage sein Gesicht wahren können. Angesichts seiner maximalen Forderungen wirkt das fast unmöglich. Aber es gibt einige Wege in diese Richtung, die der Westen bereits einschlägt oder zumindest diskutiert.
So überlassen die USA klugerweise den Europäern die Führung und bemühen sich vor allem um Einigkeit. Die EU nimmt diese Herausforderung mit Leidenschaft an. Nun muss man in Brüssel mit viel Geschick sicherheitspolitische Alternativen zu einem Nato-Beitritt der Ukraine entwickeln, der Putins aggressive Ängste ja besonders befeuert.
Der Westen muss auch deutlich machen, dass er keinen Regimewechsel in Russland anstrebt, so wünschenswert das auch wäre. Das müssen die Russen selbst durchsetzen. Sogar die Anerkennung der russischen Herrschaft über Krim und Donbass könnte erwogen werden, wenn es zum Frieden führt. Aber niemals darf Putin Gründe finden, an der Festigkeit des Westens zu zweifeln.
Ist Putin wirklich verrückt, dann wird das alles nichts nützen. Aber vielleicht gibt es dann doch ein paar Mutige in Moskau, die bereit sind, ihr Land und die Welt vor seinem Wahnsinn zu schützen. (Eric Frey, 4.3.2022)