Chrystyna Nazarkewytsch (57) ist Dozentin an der Iwan-Franko-Universität in Lwiw. Warum sie dort bleibt und was sie mit Graz verbindet, beschreibt sie in diesem Gastbeitrag.

Bild nicht mehr verfügbar.

Eine Art Kokon soll diese Skulptur in der Stadt Lwiw vor einem Bombentreffer schützen.
Foto: AP / Pavlo Palamarchuk

Sie vermuten, dass ich momentan andere Sorgen hätte. Nein, ich informiere Bekannte und Freunde im Ausland über die Situation bei uns, und das ist meine wichtigste Sorge. Was könnte ich sonst tun. Für das Schießen habe ich keine sichere Hand und nicht genügend Sehkraft. Für das Bereiten der Lebensmittel für die Front, was viele Frauen heute tun, bin ich zu weit von den Küchensachen entfernt: Ich tippe nämlich viel schneller, als ich Karotten schneide. Und für das Tarnnetzbinden haben junge Volontärinnen viel flinkere Finger als ich. So mache ich das, was ich machen kann: nämlich schreiben. Umso mehr, als es ab heute keinen Unterricht mehr gibt, das Bildungsministerium hat für alle Bildungsstätten Ferien verordnet, so habe ich keinen Unterricht an der Universität zurzeit.

Der 24. Februar begann urplötzlich, mitten in der Nacht, aber auch nicht komplett unerwartet. Dieser "großflächige Krieg" lag in der Luft, mindestens seit 2014. Und wenn ich jetzt Überschriften wie "War in Ukraine!" lese, muss ich böse schmunzeln, denn alle unsere Schreie und Appelle an die westliche Gesellschaft wurden mit besserwisserischer Arroganz abgewiesen, uns wurde erklärt, wir hätten einen Konflikt in der Ukraine, wir sollten toleranter zu den Menschen mit russischer Sprache werden, wir seien Nationalisten und Russland sei ein Kulturland. Plötzlich wurden den Menschen im Westen am 24. Februar die Augen geöffnet. Okay, besser spät als nie, sagt das Sprichwort. Aber diese späte Reaktion des Westens, dieses verspätete Interesse für unsere Geschichte und Kultur stimmt mich traurig. Vielleicht ist es der Trend der Zeit: Wenn man sich nicht ganz laut behauptet, hält man nicht viel von einem (auch von einer Nation). Leider.

Die ukrainische Seele

Diesbezüglich kann ich Ihnen als Beispiel meinen vor zwölf Jahren verstorbenen Mann anführen. 2008 war er Stadtschreiber in Graz. Auf viele wirkte er befremdend, weil seine performative Natur zum Schweigen, zu intertextuellen und interlingualen Rätseln und zu ziemlich hermetischen Bildern neigte. Und nur wenige sahen darin seinen persönlichen Mut, eigene Natur nicht zu vertuschen und individuelle Freiheit zu bewahren. Jetzt, aus der zeitlichen Distanz, scheint er, Nazar Hontschar, mir eine Verkörperung der ukrainischen Seele zu sein:

Wir Ukrainer schätzen unsere Freiheit und Individualität über alles, und das ist unser größter Unterschied von den Russen, mit denen man uns jahrelang hartnäckig verwechselt oder gleichgestellt hat. Gestern, bei einem der zahlreichen Kontakte in diesen Tagen, habe ich von einem Autor, der in den 1990er-Jahren aus Kyiw (so sollte man unsere Hauptstadt Kiew transkribieren) nach Deutschland emigrierte, Dmitrij Kapitelmann ist sein Name – also, von ihm habe ich einen netten Witz gehört: "Ein ukrainischer Köter findet, dass das Leben in der Ukraine scheiße ist, und beschließt, nach Russland zu gehen. Die Grenzposten lassen ihn durch. Nach einiger Zeit kehrt er zurück. Die Grenzsoldaten fragen ihn, warum er zurück will. Seine Antwort: Tja, das Leben in Russland ist auch scheiße, aber in der Ukraine kann ich bellen!"

Unsere Freiheit ist uns wichtig, es ist unsere Würde, und dafür sind wir bereit zu kämpfen und auch, wie man sehen kann, zu sterben.

Moralisch vorbereitet

Ich befinde mich in meiner Heimatstadt Lwiw beziehungsweise Lemberg, hier bleibe ich und von hier bewege ich mich nicht fort, solange es Krieg gibt. Natürlich behaupte ich das so munter, weil die Lage in der Stadt nicht mit der Lage in der Hauptstadt oder in Charkiw oder in unseren Südstädten zu vergleichen ist. Aber ich bereite mich auf unterschiedliche Entwicklung der Kriegssituation vor, zumindest moralisch.

Wir haben täglich mindestens einmal am Tag Luftalarm, aber beschossen wurde die Stadt noch nicht (dieser Text wurde am 28. 2. 2022 verfasst, Anm.). Wenn die Sirenen des Luftschutzalarms in der Nacht oder am frühen Morgen heulen, ist es eines der unangenehmsten Gefühle, die ich bisher kannte, ich würde das Ausgeliefertheit nennen. Wir haben auch keine richtigen Luftschutzbunker in der Stadt, niemand hat nach all den Kriegen des 20. Jahrhunderts mehr an einen Krieg geglaubt. In einem Keller verschüttet zu werden habe ich keine Lust, so verbringen ich und meine 88-jährige Mutter die Stunden zwischen Beginn und Ausklang des Alarms im Wohnungsflur.

Wut und Entschlossenheit

Die verbreitetsten Gefühle sind Wut auf den Aggressor und Entschlossenheit, sich zu wehren und unsere Werte zu verteidigen. Vielleicht auch Staunen über den Westen, der so lange die Lügen aus dem Kreml geglaubt hat. (Wenn man zum Beispiel Putins Ansprache einige Stunden vor dem Überfall auf die Ukraine studiert, wird man lauter Fake-"Informationen" darin finden.)

Was könnte der Westen tun? Man kann darauf antworten, der Westen sei zu nichts verpflichtet. Aber es wäre so gut, wenn für den Westen seine Grundwerte, für die wir Ukrainer während der Revolution der Würde 2013/14 auf dem Maidan in Kyiw standen, wieder wichtig wären, nämlich Würde, Freiheit, Geist, Unverkäuflichkeit.

Natürlich will ich damit nicht behaupten, dass wir diese Eigenschaften wirklich besitzen, aber wir streben danach. Und erleben, dass diese Bestrebungen von Russland immer wieder gestört und verhindert werden, meistens auf sehr heimtückische Art, mithilfe des Informationskrieges, in dem Weiß zu Schwarz gemacht wird und Krieg zum Frieden.

Vielleicht könnte der Westen damit beginnen, dass man uns einfach genauer betrachten würde, dass man eigene Empathie, die man immer wieder Wladimir Putins Handlungen geschenkt hat, endlich für die Menschen anwendet, die ziemlich einsam um ihre Unabhängigkeit kämpfen. (Chrystyna Nazarkewytsch, 6.3.2022)