Ökonomie der Zerstörung: Eines der Bücher von Adam Tooze zur Kriegswirtschaft im NS-Regime.

Die Moskauer Börse ist schwer getroffen und hat seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine nicht mehr geöffnet.

Der Westen hat auf den Krieg in der Ukraine mit beispiellosen Sanktionen reagiert. Die Überraschung war, dass Transaktionen mit der russischen Zentralbank untersagt wurden und das Vermögen der Bank in der EU und den USA eingefroren wurde. Russland hat Währungsreserven in Höhe von 630 Milliarden Dollar. Auf einen großen Teil davon kann Moskau nun nicht zugreifen.

STANDARD: Erleben wir gerade eine Zäsur in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen?

Tooze: Es ist zu früh, das zu beantworten. Es gibt Präzedenzfälle für das, was geschieht. Zum Einsatz gegen Russland kommen die gleichen Mittel wie gegen den Iran. Das Beängstigende an der aktuellen Situation ist, dass Sanktionen als Strafmaßnahmen konzipiert sind, innerhalb eines Systems von stabiler Ordnung. Der Bösewicht Putin bricht das internationale Recht und überrollt die Ukraine. Wir im Gegenzug bestrafen Russland mit Sanktionen. Er sitzt dann auf seinem Faustpfand Ukraine, während wir uns wirtschaftlich von Russland lösen. Diese Situation, schon sensibel genug, hat sich durch den Widerstand der Ukrainer und das Scheitern der ursprünglichen militärischen Offensive Russlands massiv zugespitzt.

STANDARD: Inwiefern?

Tooze: Wir bestrafen Russland nicht nur, Sanktionen sind gar nicht mehr der richtige Begriff. Wir führen wirtschaftlich Krieg. Die Sanktionen sollen sofort wirken, jetzt Russland maximalen Schaden zufügen und nicht erst im Laufe der Zeit. Deshalb hat der Westen auch den Weg über Zentralbanken gewählt. Es ist alles enorm komprimiert, wir erleben ein Ineinandergreifen des Krieges und dieser wirtschaftlichen Maßnahmen. Und das ist alles in der Tat sehr beängstigend.

STANDARD: Weil der Westen noch tiefer mithineingezogen werden könnte?

Tooze: Die Iraner sollten durch Sanktionen daran gehindert werden, sich Atomwaffen zu beschaffen. Die Russen sitzen auf dem zweitgrößten Atomwaffenarsenal, und es ist, als ob diese Binsenweisheit uns abhandengekommen wäre und als würde jetzt Europa den großen Volkskrieg gegen Russland feiern. Am vergangenen Wochenende freute man sich über jede neue Waffenlieferung an die Ukraine und vergaß diese andere Dimension, an die uns dann am Sonntag Putin erinnerte, als er die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte.

STANDARD: Ist jede Sanktion gut und sinnvoll? Oder sind einige Maßnahmen eher geeignet Moskau zu einem Umdenken zu bewegen?

Tooze: In den Handelsbeziehungen ist nicht viel geschehen, auch im Energiebereich sind die Beziehungen stabil. Die Sanktionen gegen Privatbanken sind natürlich schwerwiegend. Mit der Ankündigung des Westens, die russische Zentralbank zu sanktionieren, stoßen wir in eine neue Größenordnung vor. Da schlagen die westlichen Staaten auf das russische Staatswesen ein, und zwar in einem Bereich, der sonst durch gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet war. Wenn eine Zentralbank wie die russische einige Hundert Milliarden Euro in Europäischen Zentralbanken lagern lässt, dann nicht unter der Prämisse, dass sie über Nacht entrechtet wird und den Zugang verliert. Man mag darüber urteilen, wie man will. Ich sehe die Gründe klar, warum hier eingegriffen wird. Aber das ist auf gewisse Weise im Finanzsystem ein Zivilisationsbruch. Man hat das mit Afghanistan, Iran, Venezuela gemacht. Aber es gibt in der Weltordnung eine Hierarchie, und das ist das erste Mal, dass ein G20-Land wie Russland getroffen wird.

STANDARD: Wird es auch das Finanzsystem grundlegend verändern, weil es hier als Waffe eingesetzt wird?

Tooze: Es kommt darauf an, wer man ist. Also für Brasilien wird sich nicht viel ändern, das Land sitzt auf seinen 500 Milliarden Dollar an Reserven, aber Brasiliens Regierung wird sich nichts dabei denken. Wer sollte das Land schon sanktionieren? Für Indien, das ähnlich große Währungsreserven hat wie Russland, gilt das Gleiche. Aber wenn Sie Saudi-Arabien sind oder wenn Sie China sind, dann werden Sie sich ganz bestimmt überlegen in Zukunft, wo Sie Ihr Geld investieren.

STANDARD: Sind die Maßnahmen gegen Russland ein taugliches Mittel, um einen Kurswechsel in Moskau auszulösen?

Tooze: Es ist ein schwerer Schlag. Dadurch wird eine Lawine ausgelöst. Sie müssen das ja nur ankündigen, und alle privatwirtschaftlichen Akteure müssen in dem Moment umdenken. Schlagartig müssen sie alles, was russisch ist, verkaufen. Es geht in der Wirtschaft immer um Opportunitätskosten. Im Moment, in dem die Sanktionen gegen die russische Zentralbank angekündigt wurden, werden die Opportunitätskosten im Umgang mit Russland ganz ins Negative verschoben.

STANDARD: Aber kann das wirken?

Tooze: Wirksam sind die Sanktionen, wenn zwei Dinge stimmen: wenn erstens die russische Bevölkerung sich vom Putin-Regime abwendet und wenn zweitens Putin darauf reagiert, indem er deeskaliert. Beides muss zutreffen, damit die Sanktionen die richtige Wirkung haben. Dass sich die russische Bevölkerung abwendet, vielleicht. Aber Putin braucht ja für seine Form der Herrschaft keinen Konsens, alles, was er braucht, ist eine laute Minderheit, die nationalistisch reagiert. Und wie sicher sind wir, dass nicht genau das passiert? Das wäre dann das Pendant zur Stimmung in der Ukraine und zur aufgewühlten Stimmung in Europa. Alles, was wir über Putin wissen, deutet zudem darauf hin, dass er in die Ecke gedrängt eskalieren wird. Ich sage nicht, dass die Maßnahmen illegitim sind, wir müssen etwas tun. Aber das Kalkül dahinter erscheint mir sehr unsicher.

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze.

STANDARD: Schaden die Sanktionen der EU?

Tooze: Europa ist reicher, weil Russland mit angegliedert ist. Die Abkoppelung ist mit erheblichen Kosten verbunden. Das sollte man nicht unterschätzen, das war eine unattraktive Dimension des Aufruhrs am vergangenen Wochenende: diese Russophobie, die aufgekommen ist. Es gab fast so etwas wie ein Vergnügen daran, sich den Schaden, der durch die Sanktionen angerichtet wird, vorzustellen. Das ist sehr unschön und auch dumm. Die Firmen, die in Russland aktiv sind – wir reden jetzt zynisch über sie. Aber das sind gute Geschäfte, die sie tätigen. Für alle, für die Konsumenten, für ihre Aktionäre und eben auch für die Russen. Wenn man die Marktwirtschaft als solches befürwortet, kann man nicht dagegen gewesen sein, in Russland Geschäfte zu machen. Das verlieren wir jetzt, und das sollten wir auch als Verlust markieren. Menschen werden leiden, Europäer werden leiden. Aber ernst wird es für den Durchschnittsbürger in Europa erst, wenn wir mit Gas anfangen und es abdrehen. Dann wird es todernst.

STANDARD: Das ist eine große Kritik: Warum drehen wir nicht das Gas von unserer Seite ab?

Tooze: Der deutsche Finanzminister Christian Lindner hat dazu treffend formuliert: Es nutzt uns nicht sehr viel, wenn wir Sanktionen ergreifen, die uns mehr schmerzen als unseren Gegner. Rein ethisch betrachtet, würde ich auch sagen, wir sollten sofort mit dem Kauf von russischem Gas aufhören. Aber wir müssen überlegen, was das bedeuten würde. Das wäre schon für Österreich und Deutschland ein großes Problem. Viel schlimmer ist die Lage der ehemals kommunistischen Länder wie Slowakei, Tschechien oder Bulgarien, die enger an das russische Energiesystem gekoppelt sind. Wenn wir wissen, wie wir diese Länder auch ohne russische Energie versorgen, haben wir mehr Optionen. Aber da sind wir noch nicht.

STANDARD: Was werden die Sanktionen mit der russischen Wirtschaft machen?

Tooze: Ein Zusammenbruch ist nicht zu erwarten. Es wird eine Rezession kommen, die russische Wirtschaft wird um zehn, 13 oder 15 Prozent schrumpfen. Aber wir müssen bedenken, dass der gesamte Export Russlands nur 28 Prozent des russischen Bruttosozialprodukts entspricht. Also es ist nicht die gesamte Volkswirtschaft, die tangiert wird. Auf den Einbruch wird eine Phase der Anpassung und Umstellung folgen, dann wird es eine Erholung geben. Langfristig wird das Wachstum wegen der Ineffizienzen deutlich langsamer ausfallen.

STANDARD: Ist es nicht überraschend, dass Russland als Marktwirtschaft in diesen Krieg zieht, auch wenn es natürlich kein liberales System hat?

Tooze: Es gab die These des Autors Thomas Friedman aus den 1990ern, wonach zwei Länder nicht gegeneinander Krieg führen, sofern es in beiden McDonald’s gibt. Das ist tatsächlich widerlegt. Jetzt führen zwei Länder Krieg, die beide McDonald’s- und Apple-Stores haben. Was hier geschieht, ist auch eine Widerlegung einer liberalen Konvergenztheorie, nach der Menschen, wenn sie nur sehen, was ihnen Globalisierung und Marktwirtschaft bringen, sich für dieses Modell entscheiden. Nun stellt sich heraus, das war nur eine Minderheit, Teil einer urbanen Mittelschicht, die so denkt. Autoritäre Regime wie in Russland und China interpretieren die Geschichte eben ganz anders.

STANDARD: Wie?

Tooze: Sie wären die Verlierer in dieser liberalen Theorie. Sie haben deshalb ihre Gegenthese, und diese lautet, dass Globalisierung ein autoritäres Regime stützen kann. Sie sehen, dass es Abhängigkeiten gibt und dass der Westen sie braucht. Das wollte Putin nutzen, denke ich. Wenn Putin jetzt in der Ukraine gewonnen hätte, dann würde er sagen: Okay, hier ist der Deal. Ihr wollt mit uns keine Finanzgeschäfte mehr betreiben. Euer Problem! Ihr braucht aber immer noch unser Gas und Öl, dafür bezahlt ihr. Was die Situation so brenzlig macht im Moment, ist gerade, dass auf dem Schlachtfeld nichts entschieden ist. Dadurch kommt Brisanz in diese Geschichte. (András Szigetvari, 5.3.2022)