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In der ukrainischen Stadt Irpin nahe Kiew versuchen sich Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen.

Foto: Reuters / Carlos Barria

Am Straßenrand stehen Paare, die sich in den Armen liegen, die Gesichter in die Schultern des anderen vergraben. Sie sind müde von der langen Fahrt, und sie sprechen kaum, weil die Trauer so überwältigend ist. Manche stehen minutenlang einfach so da. Die Frauen und die Kinder, die von hier aus nach Rumänien weiterreisen, haben zumindest Sicherheit vor sich, aber sie müssen ab jetzt damit leben, dass sie nicht wissen, ob sie ihre Männer und ihre Väter wiedersehen werden und ob die Ukraine dann ein unabhängiges, freies Land sein wird.

Das ukrainische Dorf Solotwyno ist seit dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der Flucht vieler aus der Ukraine ein Ort des Abschieds geworden. An den Gehsteigen, neben der Kirche, in der Nähe der Wechselstube stehen Familien um ihre Autos und packen Koffer und Taschen aus und um. Die einen bleiben hier in der Heimat, die anderen fliehen in die EU. Ein paar Hundert Meter weiter, jenseits der Theiß, liegt Rumänien.

Juri Zotov hat seinen 83-jährigen Vater, seine Schwester, seine Frau, seine Tochter und seinen Sohn aus Kiew hierhergebracht. Sein Schwager Konstantin, in dessen Mimik sich die Müdigkeit und die Verzweiflung der vergangenen Tage zeigen, ist mit seiner Frau gekommen. Sie ist bereits jenseits der Theiß. "Ich gehe jetzt kämpfen. Es ist ja meine Stadt, es ist mein Kiew", erklärt er und versucht, seinen Schmerz in Tapferkeit zu verwandeln.

Dann spricht er auf Ukrainisch in sein Handy, das seine Worte ins Englische übersetzt. Auf dem Display sind couragierte Sätze zu lesen wie: "Selbst wenn sich unsere Regierung entschließt zu kapitulieren, heißt das noch nicht, dass wir, die Ukrainer, uns schämen werden. Wir werden auch dann mit dem Kampf vor Ort weitermachen. Wir werden in den Bergen kämpfen, auf den Feldern und im Wald. Wir werden Partisanen sein", ist Konstantin wild entschlossen.

Sein Schwager Juri, dessen Familie in Österreich eine sichere Bleibe sucht, will dafür sorgen, dass sich seine Heimat besser verteidigen kann: "Wir brauchen Waffen. Schickt uns Boden-Luft-Raketen!", sagt er eindringlich. Er macht sich von Solotwyno aus wieder nach Kiew auf, am Montag wird er dort sein. In Kiew erwartet er den Anruf des Armeekommandos, dass er eingezogen wird.

Salzminen in der Gegend

Solotwyno besteht nur aus ein paar Straßenzügen, einem Park mit einem Partisanendenkmal, ein paar Verwaltungsgebäuden. Meist ist der Putz an den Mauern abgeblättert, es gibt ein paar armselige Kleidergeschäfte. Auf einer Parkbank sitzt eine Frau und stickt blaue Blumen in ein Hemd. Ihr Sohn hat sie hier an die Grenze gebracht und steht jetzt unruhig neben ihr. Sie will weitersticken, sie will nicht aufstehen und nicht über die Grenze gehen. Hungrige Hunde streunen um die Schule.

Solotwyno ist klein, gerade deshalb verdichten sich die Dramen der Einzelnen hier zu einem großen, zutiefst traurigen Geschehen. Die Gewalt des Kriegs gegen die Ukraine spiegelt sich auch in den erzwungenen Abschieden der Familien wider. Das Dorf selbst ist nach der Salzgewinnung hier in der Nähe benannt. "Sol" bedeutet in den slawischen Sprachen "Salz", und Salzminen gab es hier bereits in der Römerzeit. In der Gemeinde, die heute etwa 35.000 Einwohner zählt, wurde unter dem Namen Ján Ludvík Hyman Binyamin Hoch ein Mann geboren, der später unter dem Namen Robert Maxwell zu einem Medienmogul in Großbritannien wurde. Maxwell war ein Überlebender der Shoah. An einer Hausmauer in Solotwyno wird an den Massenmord der hiesigen jüdischen Bevölkerung erinnert. 1944 wurden von hier aus zehntausende Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert.

Heute ist Solotwyno eine Zentrale der Hilfsbereitschaft. Der Bürgermeister spricht permanent ins Handy, um ihn sitzen geschäftige Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung. Der Fernseher läuft. Er koordiniert die Freiwilligen – meist sehr junge Ukrainer –, die sich aus allen Dörfern gemeldet haben. Sie unterstützen die Geflüchteten dabei, zu Wasser, Essen, ärztlicher Versorgung, SIM-Karten und vor allem Informationen zu kommen.

Rumänen kommen über die Grenze

Auch viele Rumäninnen und Rumänen, etwa vom Roten Kreuz, sind über die Grenze gekommen. Sie weisen den Autos beim Kreisverkehr den Weg Richtung Grenze. Die Zusammenarbeit zwischen Ukrainern und Rumänen wurde in den vergangenen Jahren aufgebaut. Manches ist hier auch auf Rumänisch angeschrieben. Ein alter VW-Kleinbus, vollgepackt mit acht Kindern, kommt um die Ecke. Es ist eine mennonitische Familie aus dem Dorf Gorodske. Viele Mennoniten flohen im 19. Jahrhundert aus Westeuropa in die Ukraine. Die Familie im VW-Bus darf zusammenbleiben, denn Väter von mehr als drei Kindern werden nicht eingezogen.

Im Auto dahinter sitzt der 32-jährige Evgenij R. mit seiner Frau und seinem Sohn. In der Schlange vor der Grenze stehen noch etwa 15 Wagen, den drei bleiben also vielleicht noch 40 gemeinsame Minuten. Dann muss auch Evgenij umdrehen. Er erzählt, dass in seiner Heimatstadt Dnipro, aus der er vor drei Tagen aufgebrochen ist, Freunde und Verwandte gemeinsam Molotowcocktails basteln. Seine Frau und sein Sohn schweigen, die rumänische Fahne kommt immer näher. Und der Abschied? "Ich kann das nicht beschreiben", sagt er, schließt die Türe und fährt Richtung Theiß. Noch 35 gemeinsame Minuten. (Adelheid Wölfl aus Solotwyno, 7.3.2022)