Vor ein paar Jahren traf ich eine deutsche Diplomatin auf ein Abschiedsgespräch. Bei Kipferl und Melange erzählte sie mir, sie wechsle von Wien zurück ins Berliner Außenamt, um sich mit der "Geopolitik der Energiewende" zu beschäftigen. Ich konnte mit dem Begriff damals noch nicht viel anfangen.

Heute verstehe ich, was sie meinte: Die Energiewende bringt eine massive, globale Machtverschiebung. Für uns Europäer ist es die Chance, Dekaden der Abhängigkeit zu beenden und unsere energiepolitische Souveränität zu erlangen.

Jene, die angesichts der schwierigen Wirtschaftslage fordern, den Klimaschutz und den Ausbau von Alternativenergien zurückzufahren, handeln verantwortungslos und kleingeistig. Sie vergessen, welchen Wohlstand der konsequente Umstieg auf erneuerbare Energien langfristig schaffen kann. Vorübergehende soziale Folgekosten lassen sich durch direkte Ausgleichszahlungen abfedern. Wir müssen in die Sicherheit dezentraler Netze investieren, um sie vor Instabilität und Cyberangriffen zu schützen.

Eine intelligente Transformation unserer Energieversorgung stellt statt klimaschädlicher Bodenschätze Schlüsseltechnologien ins Zentrum. Produzieren Individuen, Kommunen und Regionen ihre Energie in Zukunft selbst, gewinnen sie Autonomie. Die großen Energieversorger haben diese Wende bisher nur zaghaft unterstützt, zum Teil aktiv dagegengearbeitet. Sie fürchteten zu Recht den Verlust ihrer Macht. Der ehemalige OMV-Vorstand Rainer Seele zum Beispiel meinte vor fünf Jahren in Bezug auf Österreichs Abhängigkeit von Gazprom, man solle "nur auf einer Hochzeit tanzen". Wie der Tanz mit dem russischen Bären aussieht, bekommen wir jetzt zu spüren.

Unsere Abhängigkeit von russischem Gas bekommen wir jetzt zu spüren.
Foto: imago images/SNA

Alte Muster brechen

Um konkret zu werden: Am 3. März 2022 importierten die EU-Mitgliedsländer Gas im Wert von 600 Millionen Euro aus Russland. Nur an einem Tag! Wir bezahlen die russische Invasion der Ukraine. Die europäische Bevölkerung wird nicht von heute auf morgen bereit sein, die Thermostate ihrer Wohnungen um drei Grad hinunterzudrehen und kalt zu duschen. Doch was auch immer passieren mag: Wenn wir schon von einer Wendezeit sprechen, müssen wir endlich alte Muster brechen und die Energiewende beschleunigen.

Die Energieversorger können mit politischer Unterstützung und, wenn notwendig, Druck von Verhinderern zu Ermöglichern werden. Wir alle werden mit neuen Windparks und Pumpspeicherwerken leben müssen. Neben der regionalen braucht es aber auch eine globale Perspektive. Noch findet ein Großteil der Investitionen in erneuerbare Energien in den reichen Industrienationen statt. Doch Entwicklungsländer haben den am schnellsten wachsenden Energiebedarf. Um eine Verschärfung globaler Ungleichheiten und damit weitere Destabilisierungen und Konflikte zu verhindern, benötigen Entwicklungsländer dringend Zugang zu Kapital und Schlüsseltechnologien, wie zum Beispiel der Herstellung von Wasserstoff. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit einer neuen europäischen Sicherheitspolitik müssen die finanziellen Prioritäten hier gesetzt werden und nicht in einer planlosen Aufrüstung.

Im Zeitalter der Energiewende sollte Kooperation und nicht Egoismus das Zentrum der europäischen Geopolitik bilden. (Philippe Narval, 7.3.2022)