Wolfgang Petritsch, der frühere Spitzendiplomat und neue Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik, legt im Gastkommentar dar, welche politischen Lösungen es für den Krieg in der Ukraine geben könnte.

Angela Merkel kennt Wladimir Putin aus ihrer Zeit als deutscher Kanzlerin. Sie legte Wert darauf, Gesprächskanäle offenzuhalten.
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Die zunehmende Brutalisierung des Krieges Russlands gegen die Ukraine lässt die Frage aufkommen, ob bereits jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, sich auf die Suche nach einer politischen Lösung des Konfliktes zu begeben. Die bis dato erfolglosen Kontakte Präsident Emmanuel Macrons mit dem Kriegsherrn im Kreml sind ein Hinweis darauf, dass Wladimir Putin immer noch auf die Lösung seines Problems mittels militärischer Aggression zählt. Der "Blitzkrieg" ist zwar gescheitert, aber die Vernichtungsschlacht wird Putin wohl gewinnen. Was dann?

Die Zerstörung des zweitgrößten Staates Europas macht sprachlos, die Handlungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. In dieser prekären Situation, da sich Nuklearmächte gegenüberstehen, ist besonders umsichtiges Vorgehen angesagt. Die atomare Drohung Putins – Atomkraftwerke werden unversehens zu Massenvernichtungswaffen – stellt die größte Unbekannte im laufenden politischen Nervenkrieg dar.

Direkter Draht

Unkonventionelle Überlegungen – ein Denken "out of the box" – sollten daher nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Möglichkeiten sind da, auch wenn es naiv klingen mag. Persönliche Freundschaften etwa – mögen sie solche des Zwecks oder, schwerer vorstellbar, tatsächliche sein. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass vereinzelt Persönlichkeiten mit dem in guten Zeiten gepriesenen direkten Draht Krisen abwenden oder beenden helfen konnten. Ich denke da an das Dreigespann Willy Brandt, Bruno Kreisky, Olof Palme.

Das ist in diesem Krieg insofern anders, als es nicht in erster Linie um ideologische Positionen geht, wie dies im Kalten Krieg der Fall gewesen ist – und sieht man von Putins Identitätsrevisionismus einmal ab. Im Vordergrund stehen ziemlich deutlich finanzielle Überlegungen. Den Aggressor und solche, die ihn vor kurzem noch als lupenreinen Demokraten bezeichnet haben, eint ganz pragmatisch ein Ziel: konkret gemeinter Gewinn, durchaus zum beiderseitigen Vorteil. Der Deal ist politische Reputation für Imagegewinn.

Vertane Chance

Dies kann bekanntlich in Form von Aufsichtsratssitzen oder Beraterverträgen geschehen. Die moderne Form dieses neoliberalen Win-win-Spiels – jener nahtlose Wechsel von öffentlicher Funktion in Industriekonzerne und wieder zurück – wird in den USA seit jeher praktiziert. Und wurde vor Zeiten in die EU importiert. Eine gebotene Cooling-off-Periode ist immer noch nicht allgemeine europäische Praxis (Österreich hat erst kürzlich mit Sebastian Kurz und Gernot Blümel zu westlichen Trends aufgeschlossen).

Wenn es um Russland geht, dann hat diese spezifische europäische Ausprägung der privaten Verwertung öffentlicher Expertise ihren Ort in Deutschland und Österreich gefunden. Nun mag man in Österreich von den ehemaligen Regierungschefs oder Ministerinnen und Ministern wenig erwarten können, wenn es um seriöses Krisenmanagement geht – die absurde Brückenbauerphrase wird ja schon wieder strapaziert.

"Leichtgewichte zählen jetzt nicht."

Wer nun wäre das österreichische Personal? Die blaue Außenministerin fällt trotz bewiesener Tanzkünste im politischen Powerplay nicht ins Gewicht. Auch vom beharrlichen Schweiger Wolfgang Schüssel ist in dieser für Europa existenziellen Situation wenig zu erwarten. Leichtgewichte zählen jetzt nicht. Anders wäre dies mit Gerhard Schröder (gewesen); da sehe ich eine vertane Chance.

Hätte bloß Bundeskanzler Olaf Scholz mit seinem Vorgänger in Partei und Amt und bekennendem Putin-Freund bereits im Vorfeld des – tatsächlich unerwarteten – Krieges ein ernstes Wort gesprochen; immerhin brodelt der Konflikt seit 2014. Womöglich hätte persönliche Diplomatie mitgeholfen, den Konflikt in geregelte Bahnen zu lenken – etwa mit der bereits im Konflikt engagierten OSZE, mit der ehemaligen Iran-Chefverhandlerin der EU, Helga Schmid, als derzeitigen Generalsekretärin. Oder mit den Vereinten Nationen.

Frage des Timings

In beiden Organisationen sind Aggressor und Opfer Mitglieder. Zweifellos muss Moskau an einer Vermittlerrolle der Vereinten Nationen erhöhtes Interesse haben, kann es doch mittels Veto den Prozess beeinflussen. Während es also für einen Freundschaftsdienst Schröders wohl zu spät sein mag, ist es für eine Merkel-Mission im UN-Auftrag womöglich noch zu früh. Denn das Timing ist von entscheidender Bedeutung. Das beweisen sowohl gelungene wie auch misslungene Beispiele von Afghanistan bis zum Balkan. Daraus sollte gelernt werden.

Schließlich kann auch China, der aufstrebende Akteur auf der Weltbühne, nicht aus der Pflicht entlassen werden. Die Zurückhaltung Chinas in diesem für seine globalen Interessen wichtigen Konflikt – in beiden Staaten ist Peking wirtschaftlich engagiert – zeigt sich im seit dem Beginn des Krieges geänderten Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen. Während Peking seit Jahren zunehmend mit Russland gestimmt hat, zeigt sich nun ein bemerkenswerter Wandel: China enthält sich der Stimme; Moskau kann nur noch auf Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien zählen. Hat Putin noch einen letzten Funken politischen Verstandes, so muss er sehr rasch aus diesem Eck heraus. Denn diese Isolation mag Peking nicht mit Moskau teilen.

"Internationale Krisendiplomatie ist Multitasking."

Da eröffnet sich für eine UN-Mission Angela Merkels ein "window of opportunity", zumal auch Peking im Sicherheitsrat ein Veto besitzt. Freilich greifen diese Überlegungen den unmittelbaren humanitären Herausforderungen vor, sollten jedoch nicht hintangestellt werden. Internationale Krisendiplomatie ist Multitasking.

Die rasche und einheitliche Reaktion Brüssels hat Erstaunen und Hoffnung ausgelöst. Die eindeutige Identifizierung des Aggressors war zweifellos hilfreich, um die seit 2015 vermisste Handlungseinheit rasch herzustellen. Die ungewohnt klaren politischen Ansagen aus Brüssel und den wichtigen europäischen Hauptstädten stärken Kiew in seinem beeindruckenden Verteidigungswillen. Gleichzeitig erteilt die Nato der geforderten Luftraumüberwachung eine Absage, um damit Moskau jeden Grund zur Eskalation Richtung östlicher Nato-Mitglieder zu nehmen. Denn diese Option scheint augenblicklich Putins mögliche Trumpfkarte zu sein.

Frieden ist alternativlos

Erstmals handelt die EU und überlässt Europa nicht den USA. Hat Brüssel, sozusagen über Nacht, "die Sprache der Macht" erlernt? Die rasch angelaufenen humanitären Hilfsmaßnahmen zur Bereitstellung der Infrastruktur für die befürchteten bis zu zehn Millionen Flüchtlinge und intern Vertriebenen sollten auch für die Anbahnung einer möglichen Vermittlungsmission dienen. Militärhilfen sind in Brüssel und in Berlin europäische Tabubrecher.

Seit dem Fall der Mauer und der Implosion der Sowjetunion hat es keinen dramatischeren Wendepunkt in der Geschichte Europas gegeben. Diesmal geht es um nichts weniger als die Bewältigung der Spätfolgen des Kalten Krieges in Europa. Denn dieser Krieg ist ein europäischer Krieg. Angesichts der vordringenden russischen Panzer scheint die Vision einer umfassenden europäischen Friedensordnung verfrüht. Sie ist jedoch alternativlos. (Wolfgang Petritsch, 7.3.2022)