Im "Friedenspalast" in Den Haag wird derzeit über die russische Aggression gegenüber der Ukraine verhandelt.

Foto: imago images / PPE

Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein fundamentaler Bruch des Völkerrechts. Darin sind sich alle seriösen Expertinnen und Experten einig. Bereits kurz nach Beginn der russischen Invasion brachte die Ukraine daher eine Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) der Vereinten Nationen in Den Haag ein.

Dort hat am Montag nun das Verfahren begonnen. Russland verübe "Kriegsverbrechen" und müsse gestoppt werden, sagte der Vertreter der Ukraine, Anton Korynewytsch. Russland nahm an der Anhörung nicht teil, gibt aber voraussichtlich am Dienstag ein Statement ab. Ob die Ukraine mit ihrer Klage Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Denn das Land hat zwar inhaltlich recht, stößt aber auf formale Hürden.

Frage: Warum liegt ein Verstoß gegen das Völkerrecht vor?

Antwort: Der Einmarsch in die Ukraine verletzt die Souveränität des Landes und verstößt damit eindeutig gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. Krieg ist grundsätzlich verboten und nur in wenigen Ausnahmen erlaubt. Dazu zählen etwa das Recht auf Selbstverteidigung und Missionen des UN-Sicherheitsrats. Völkerrechtlich umstritten sind humanitäre Interventionen. Davon spricht man dann, wenn ein Staat in einem anderen Staat militärisch eingreift, weil dieser seine eigene Bevölkerung nicht schützt.

Frage: Wie argumentiert Russland?

Antwort: Russland behauptet, sein Vorgehen sei rechtens, und stützt sich dabei im Wesentlichen auf zwei Argumente: Zum einen sei die Invasion eine Reaktion auf die Expansion der Nato Richtung Osten und ein Akt der Selbstverteidigung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk. Zum anderen wolle Russland mit dem militärischen Schritt den "Genozid" in der Ostukraine stoppen. Das Selbstverteidigungsrecht greift aber schon allein deshalb nicht, weil die Volksrepubliken keine anerkannten Staaten sind. Auch ein Völkermord, wie von Russland behauptet, findet nicht statt.

Frage: Worum geht es nun im Verfahren vor dem UN-Gericht?

Antwort: Die Ukraine will der Rechtfertigung Russlands für seinen Angriff auf die Ukraine den juristischen Boden entziehen und erhofft sich, dass der IGH Sofortmaßnahmen erlässt. Dabei gibt es aber eine formale Hürde: Der Gerichtshof kann grundsätzlich nur dann tätig werden, wenn beide betroffenen Staaten dem Verfahren zustimmen. Russland wird sich in der zentralen Frage, ob die Aggression gegen die Ukraine gerechtfertigt ist, aber nicht dem Gericht unterwerfen.

Frage: Warum gibt es dennoch ein Verfahren?

Antwort: Die Ukraine hat einen Umweg gewählt, um Russland vor den IGH zu bringen, erklärt Andreas Müller, Professor für Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Das Land will vom Gericht feststellen lassen, dass der Vorwurf Russlands, in der Ukraine werde ein Völkermord begangen, der ein militärisches Eingreifen rechtfertige, falsch ist. Es geht also um eine "Auslegungsfrage" der Völkermordkonvention, sagt Müller. Deshalb kann sich Russland dem Verfahren vorerst nicht entziehen.

Frage: Was passiert diese Woche?

Antwort: Der IGH hört am Montag und am Dienstag die Ukraine und Russland an. Danach werden die Richterinnen und Richter über einstweilige Maßnahmen abstimmen. "Eine Entscheidung könnte vielleicht sogar noch diese Woche ergehen", glaubt Müller, der in der Vergangenheit selbst am IGH tätig war. Der Gerichtshof könnte etwa anordnen, dass die Kriegsparteien die Gefechte einstellen sollen. Dass sich Russland daran halten würde, kann man laut Müller aber ausschließen. Und eine Möglichkeit, das Urteil durchzusetzen, hat der IGH nicht. Er kann zwar den UN-Sicherheitsrat anrufen, dort hat Russland allerdings ein Vetorecht.

Frage: Wie geht es danach weiter?

Antwort: Sobald die Richterinnen und Richter über mögliche Sofortmaßnahmen entschieden haben, werden sie das Verfahren eröffnen und zunächst prüfen, ob sie überhaupt zuständig sind. Aus Sicht von Müller stehen die Karten für die Ukraine dabei schlecht. Denn die Richterinnen und Richter könnten die Argumentation mit der Völkermordkonvention als "Umgehungskonstruktion" interpretieren, mit der Russland ohne seine Zustimmung dem Gericht unterworfen werden soll. Auch wenn die Ukraine recht damit hat, dass die russische Aggression illegal ist, könnte das Verfahren also schon bei der Frage der Zuständigkeit zugunsten Russlands ausgehen.

Frage: Gibt es noch weitere Verfahren?

Antwort: Die Ukraine und zahlreiche weitere Staaten haben sich auch an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH oder ICC) gewandt, der seinen Sitz ebenfalls in Den Haag hat und einzelne Personen anklagen kann. Vergangene Woche teilte Chefankläger Karim Khan mit, dass offiziell Ermittlungen zu Kriegsverbrechen eingeleitet wurden. Die Untersuchungen beziehen sich zunächst auf mögliche Verbrechen vor der Invasion, dürften sich aber ausweiten. Laut Khan gibt es "eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden".

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat bereits vorläufige Maßnahmen erlassen. Russland soll demnach Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Ziele unterlassen. Das Gericht ist der Ansicht, dass "ein reales und andauerndes Risiko ernster Rechtsverletzungen der zivilen Bevölkerung" vorliegt. Konkret fordern die Richterinnen und Richter, dass Wohnorte, Schulen, Krankenhäuser und einzelne Zivilisten nicht angegriffen werden. (Jakob Pflügl, 7.3.2022)