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Zerstörung in Charkiw am Freitag. "Wir liegen unter ständigem Artilleriebeschuss", sagt Bürgermeister Igor Terechow.

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Igor Terechow auf einem Archivbild aus dem Jahr 2021.

Foto: IMAGO/Ukrinform/Mykola Miakshykov

Vor dem Krieg war Charkiw eine junge Stadt, voller Studierender aus aller Welt – vor allem wegen ihrer zahlreichen Universitäten und Hochschulen. Charkiw hat große wirtschaftliche, aber auch symbolische Bedeutung für die Ukraine. Seit Beginn des Krieges ist die Metropole mit ihren weitläufigen Parks und Alleen nahe der Grenze zu Russland schwer umkämpft. Mehrmals hatte die russische Armee versucht, Charkiw im Sturm zu nehmen. Mehrmals war sie gescheitert. Seit einer Woche liegt die Stadt nun vor allem nachts unter schwerem Artillerie- und Raketenbeschuss. Vor allem aber: Charkiw, eine Stadt von 1,5 Millionen Einwohnern, ist praktisch eingeschlossen, um die Stadt toben schwere Kämpfe. DER STANDARD hat Bürgermeister Igor Terechow am Sonntag für ein Interview erreicht.

STANDARD: Wie ist die aktuelle Lage in der Stadt?

Terechow: Es ist eine Katastrophe, sie schießen, wir werden ununterbrochen bombardiert.

STANDARD: Ist die Stadt noch unter vollständiger Kontrolle der ukrainischen Armee?

Terechow: Ja, das ist sie. Charkiw ist unter Kontrolle – und wird es auch bleiben.

STANDARD: Charkiw hatte vor dem Krieg 1,5 Million Einwohner. Viele davon ausländische Studierende. Was schätzen Sie: Wie viele Menschen sind noch in der Stadt?

Terechow: Sehr viele Menschen haben die Stadt verlassen, viele sind mit dem Auto in Richtung Westen gefahren, viele haben Züge genommen. Wie viele, lässt sich kaum sagen. Die ausländischen Studierenden haben fast alle die Stadt verlassen. Eine Gruppe ist heute abgereist.

STANDARD: Die Stadt gilt als eingeschlossen. Ist es denn derzeit möglich, aus der Stadt zu kommen?

Terechow: Sicherheit kann ich nicht garantieren. Es wird ständig geschossen. Wir liegen unter ständigem Artilleriebeschuss. Sicherheitsgarantien gibt es nicht.

STANDARD: Welche Folgen hat dieser Beschuss auf die Infrastruktur?

Terechow: Die Stromversorgung ist problematisch. Transformatoren werden getroffen oder auch gezielt beschossen. Dadurch werden ganze Stadtteile immer wieder vom Strom abgeschnitten. Die Wasserversorgung funktioniert nach wie vor. Aber natürlich ist es hart, wir müssen die Leitungen ständig reparieren. Gas- und Wasserleitungen werden sehr oft getroffen. Aber im Großen und Ganzen werden die Menschen mit dem Wichtigsten versorgt. Was Nahrung angeht, so haben wir Vorräte. Die Regierung, der Premierminister, der Präsident, die Minister, andere Städte der Ukraine haben Güter organisiert. Ich habe auch an unsere Partnerstädte im Ausland (Bologna, Brünn, Cincinnati, Kutaissi, Lille, Nischni Nowgorod, Nürnberg, Posen, Rize, Berlin, Tianjin, Anm.) appelliert zu helfen.

STANDARD: Zuletzt gab es Berichte darüber, dass vermehrt zivile Ziele getroffen werden. Können Sie das bestätigen? Wieso, glauben Sie, passiert das?

Terechow: Ich kann das nicht kommentieren, ich kann auch nicht kommentieren, was die russische Armee tut. Ich kann nur sagen, dass sehr viele Menschen hier getötet und verwundet werden und dass es sich hier um friedliche Bürger handelt, die in ihrem eigenen Land leben und einfach nur ihre Ruhe haben wollen.

STANDARD: Sind Sie zuversichtlich, dass es humanitäre Korridore für Charkiw geben wird?

Terechow: Es wird sie geben müssen. Wir brauchen sie für die Evakuierung – aber auch, um Güter in die Stadt zu bringen. Wir brauchen solche Korridore dringend.

STANDARD: In Mariupol und Wolnowacha wurden die Korridore bombardiert. Sind Sie optimistisch, dass man sich einigen wird können?

Terechow: Das hoffe ich – weil sich beide Seiten an abgegebene Versprechen halten müssen. Ich hoffe sehr, dass man solche Korridore öffnen wird können und dass sie eben nicht bombardiert werden.

STANDARD: Stehen solche Korridore für Charkiw zur Debatte?

Terechow: Ja, es wird darüber geredet. Aber das ist ein langer Verhandlungsprozess. Und das Ergebnis hängt nicht von mir ab.

STANDARD: Zuletzt wurden vermehrt Zivilisten für lokale Verteidigungsgruppen rekrutiert und ausgerüstet. Verschwimmen dadurch nicht letztlich Grenzen zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten, wodurch für die Zivilbevölkerung große Risiken entstehen?

Terechow: Diese Menschen melden sich freiwillig. Sie wollen ihr Land, ihre Stadt verteidigen. Sie wollen kämpfen. Das sind friedliche Leute. Was kann man ihnen vorwerfen? Unsere Armee hat viele Rekruten, und wir haben viele Leute, die sich freiwillig melden. Aber die wollen keinen Krieg. Die wollen sich nur verteidigen. Und die Bombardierung ziviler Ziele und von Wohngebieten ist ein Verbrechen und ein Genozid an den Ukrainern.

STANDARD: Präsident Selenskyj hat geschworen, keinen Meter zurückzuweichen und Gebiet zu halten, koste es, was es wolle. Sie sitzen direkt an der Frontlinie dieses Krieges und inmitten der humanitären Konsequenzen, die er hat. Stimmen Sie mit der Linie des Präsidenten überein?

Terechow: Ich unterstütze Selenskyjs Politik. Ich möchte sagen, dass jeder Mensch in Charkiw und jeder Mensch in der Ukraine bereit ist, für dieses Land in den Krieg zu ziehen und für dieses Land zu kämpfen. Ich glaube, es ist nicht akzeptabel, sich hier auch nur einen Zentimeter vor den Russen zurückzuziehen. Ich glaube, Selenskyj hat absolut recht und wir werden die Unabhängigkeit dieses Landes verteidigen.

STANDARD: Könnte es sein, dass die russische Armee nicht erwartet hat, dass es solchen Widerstand geben wird?

Terechow: Ich habe keine Ahnung, was die russische Armee erwartet hat und womit sie gerechnet haben, aber sie werden Charkiw oder die Ukraine nie besiegen. Die Leute akzeptieren solche Aggression nicht. Die Leute wollen nicht unter dem Recht der Russischen Föderation leben. Die Menschen wollen in der Ukraine leben, in ihrem eigenen Land. Sie wollen arbeiten, aufbauen und kreieren.

STANDARD: Hegen Sie die Befürchtung, dass Charkiw im Rahmen der Verhandlungen geopfert werden könnte?

Terechow: Das wird niemals passieren. (Stefan Schocher, 7.3.2022)