Es gibt Bilder vom Krieg, vom Grauen, die gehen nie mehr weg. Sie gehen Menschen, die sie in einer Zeitung oder in allgegenwärtigen sozialen Medien gesehen haben, nicht mehr aus dem Kopf. Fotos und Videos von vorsätzlich getöteten Zivilisten haben aber nicht bloß diese psychologische Dimension. Sie haben auch eine juristische, eine völkerrechtliche Seite. Sie lassen sich nie mehr aus den Archiven jener Behörden löschen, die Kriegsverbrechen zu verfolgen haben. Der Zufall wollte es, dass am Montag binnen weniger Stunden gleich beide Aspekte zutage getreten sind.

Zunächst veröffentlichte die New York Times eine Dokumentation zu einem Angriff auf flüchtende Zivilisten in Irpin, einem Vorort von Kiew, mit einer Mörsergranate. Kinder, Frauen, Alte in dicker Winterkleidung sind zu sehen, wie sie am Straßenrand entlanggehen. Plötzlich zerreißt ein Feuerblitz die Szene. Drei Tote – ein Mädchen, seine Mutter, ein Jugendlicher – liegen auf dem Asphalt neben ihren Rollkoffern.

Irpin – diesen Namen wird man sich merken müssen. Wie Sarajevo, Vukovar oder Srebrenica – Orte größter Verbrechen in den Jugoslawienkriegen in den 1990ern. Der Name steht dafür, dass Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine durch Bombardierung von Wohnvierteln und gegen Zivilisten eskalieren lässt. Irpin steht für Kriegsverbrechen.

Auch Putin und seine Generäle dürfen sich nicht mehr sicher sein, ob nicht auch sie einmal im Gefängnis landen.
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Wie wichtig Bilder davon sind, das wurde nur wenige Stunden nach dem "Publikationsschock" beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag klar. Dort wurde ein Verfahren gegen Russland eröffnet, das die Ukraine angestrebt hat. Es soll geklärt werden, ob mit dem Entfesseln eines Aggressionskrieg am 24. Februar das Völkerrecht gebrochen wurde. Da Moskau das Verfahren nicht anerkennt, könnte es sein, dass die Kläger aus formellen Gründen scheitern.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Aber ganz so einfach wird es für den Kreml nicht. Denn in Den Haag wird am Internationalen Strafgerichtshof ab nun auch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt. Das dauert. Das Wichtigste ist: Wie einst Slobodan Milošević oder Ratko Mladić wissen mussten, dass sie einmal vor ihrem Richter in Den Haag stehen könnten, dürfen sich auch Putin und seine Generäle nicht mehr sicher sein, ob nicht auch sie einmal im Gefängnis landen. Die Vereinten Nationen wie der Westen als Verteidiger universeller Werte und der UN-Charta dürfen nicht untätig zuschauen, wie vor aller Welt Millionen Menschen massakriert und vertrieben werden.

Die juristische Aufarbeitung wird das Kampfgeschehen kaum beeinflussen. Sie kann den Europäern und den USA aber eine Basis für politische Entscheidungen geben, sollten die Gräueltaten der russischen Armee andauern und die Wirtschaftssanktionen sie nicht stoppen.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock glaubt, dass Putin "keine rote Linie kennt": Man könne nicht ausschließen, dass er auch gegen Moldau und das Baltikum militärisch vorgeht. Was heißt das für uns? Niemand will einen Krieg mit Russland, die Nato nicht, die EU schon gar nicht. Aber es könnte der Fall eintreten, dass Kriegsverbrechen und die Flucht von fünf und mehr Millionen Menschen unerträglich werden.

Für Regierungen in Europa stünden dann harte, existenzielle Entscheidungen an. Jede militärische Gegenwehr aus "Angst vor dem Dritten Weltkrieg" absolut auszuschließen wäre eine schwache Option. Dann funktionierte Putins Propaganda. Es käme einer Selbstaufgabe der freien, liberalen Demokratien gleich. (Thomas Mayer, 7.3.2022)