Es war Richard Nixon, der sich einst der "Mad-Man-Theorie" bediente. Verhandlungen zur Beendigung des Vietnamkriegs, geführt mit der Regierung in Hanoi, hatten sich festgefahren. In der Sackgasse soll US-Sicherheitsberater Henry Kissinger auf die Idee gekommen sein, den Nordvietnamesen zu signalisieren, der Präsident sei zu allem fähig: Falls sie dessen neuestes Angebot nicht annähmen, wäre sogar mit dem Einsatz von Kernwaffen zu rechnen.

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Joe Biden will es im Kräftemessen mit Wladimir Putin nicht zum Äußersten kommen lassen. Doch wie weit kann der Westen gehen?
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Auch Hanois Verbündetem, der Sowjetunion, sollte vermittelt werden, dass Nixon nicht zu bremsen sei, wenn ihn die Wut packe. Im Kreml sollte man glauben, Nixon sei verrückt genug, einen Nuklearkrieg vom Zaun zu brechen.

Heute fragen sich die Amerikaner, ob auch Wladimir Putin auf verrückt macht; wie ernst es der russische Präsident meint, wenn er die Möglichkeit von Atomschlägen andeutet. Ob er nur blufft oder tatsächlich bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. US-Präsident Joe Biden ist offensichtlich nicht bereit, mit ihm am Abgrund zu wandeln. Das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation hält er für zu groß.

Raketentest abgesagt

Die Vorsicht erklärt, warum das Pentagon vergangene Woche den länger geplanten Test einer Interkontinentalrakete absagte – erst zum vierten Mal seit 2001, klar erkennbar in der Absicht, einen Nervenpoker mit Putin abzuwenden.

Eine Hotline, eine Art rotes Telefon zwischen den Militärstäben der USA und Russlands, zur Vermeidung von Missverständnissen eingerichtet, wird zweimal am Tag getestet, um sicherzugehen, dass sie funktioniert.

Eine Flugverbotszone über der Ukraine kommt für das Weiße Haus nicht infrage, so energisch sie von Wolodymyr Selenskyj auch gefordert wird, so groß auch der Respekt vor dem Heldenmut des ukrainischen Präsidenten und vieler seiner Landsleute ist. Nach Bidens fester Überzeugung würde sie zwangsläufig eine direkte Konfrontation zwischen Flugzeugen Russlands und solchen der Nato nach sich ziehen.

Ross Douthat von der New York Times, ein Anhänger der traditionellen konservativen Denkschule, spricht von einer Doktrin für den Umgang mit einer feindlichen Atommacht: "Klare Linien – hier kämpfen wir, dort kämpfen wir nicht – sind die Währung des nuklearen Reichs." Ziel sei es, dem Gegner die Verantwortung für jegliche Eskalation zu geben, ihn deren apokalyptisches Gewicht spüren zu lassen und ihm zugleich das Gefühl zu geben, dass er immer einen anderen Weg nehmen könne.

Lieber früher als später?

Im US-Kongress gibt es aber auch deutlich offensivere Stimmen, etwa die Adam Kinzingers, eines Republikaners, der einst den Mut hatte, sich offen gegen Donald Trump zu stellen: Sollten russische Truppen erst Kiew und den größten Teil der Ukraine eingenommen haben, "dann wachen wir jeden Morgen auf und sehen in den Nachrichten, dass erneut tausende Zivilisten getötet wurden". Dann werde der Moment kommen, in dem man gar nicht anders könne, als eine No-fly-Zone einzurichten. Ergo: lieber früher als später.

Einstweilen ist Kinzinger damit in der Minderheit, während Trump Bemerkungen in die Debatte wirft, die an seiner Ernsthaftigkeit zweifeln lassen. Amerika solle seine F-22-Jets einfach mit chinesischen Flaggen versehen und dann "die Scheiße aus Russland herausbomben", empfahl er. "Und dann sagen wir, das war China, wir waren das nicht. Und dann beginnen sie gegeneinander zu kämpfen, und wir lehnen uns zurück und schauen zu." Die Sätze, berichtet die Washington Post, der eine Aufzeichnung der Rede zugespielt wurde, seien mit Gelächter quittiert worden – wie ein Scherz.

Waffen und Hypothesen

Zurück zum Weißen Haus. Neben Javelin-Panzerabwehrraketen lässt Biden Stinger-Flugabwehrraketen liefern, mit denen in den Achtzigern schon die Mujahedin in Afghanistan versorgt wurden. Mit Polen verhandelt er über den Transfer von Kampfflugzeugen sowjetischer Bauart an die Ukraine, was durch die Lieferung amerikanischen Fluggeräts an die polnische Luftwaffe ausgeglichen werden soll.

Kongressabgeordnete erinnern an den Lend-Lease Act von 1941, der als Vorbild dienen könnte, auch wenn der Vergleich hinken mag. Auf der Grundlage dieses Gesetzes liehen die USA, noch bevor sie selbst in den Krieg eintraten, Waffen und Munition an Großbritannien. Und so wie sich damals eine polnische Exilregierung in London ansiedelte, könnte sich diesmal eine ukrainische in Warschau etablieren.

US-Medienberichten zufolge ist es eine Option, über die Emissäre Bidens bereits mit Selenskyj beraten haben. Zur Debatte stehe, ob sich der ukrainische Staatschef, zusammen mit seinem Kabinett, zunächst nach Lwiw begeben würde. Bisher, heißt es, lehne er einen solchen Schritt ab. (ANALYSE: Frank Herrmann, 8.3.2022)