Wäre es ein Blitzkrieg geworden, gäbe es wahrscheinlich weniger Kollateralschäden. Aber je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto mehr Zerstörungen sind zu verzeichnen.
Das hängt auch mit den eingesetzten Waffensystemen zusammen.
Was aus der Luft kommt
In der allerersten Phase des Krieges verfolgte der russische Angreifer offenbar das Ziel, die Lufthoheit zu erringen und mit einer Luftlandeoperation rasch ins Zentrum von Kiew vorzustoßen. Das erste Ziel wurde weitgehend erreicht, die russischen Aggressoren haben die Luftwaffe der ukrainischen Verteidiger bereits in den ersten beiden Tagen des Überfalls weitgehend ausgeschaltet. Dazu wurden laut westlichen Experten SS-26-"Iskander"-Boden-Boden-Raketen (Reichweite 70 bis 280 Kilometer) sowie "Kalibr"-Marschflugkörper, die von einer MiG-31 gestartet werden, eingesetzt. Auch wenn ein Großteil der Boden-Infrastruktur, die für einen geregelten Flugbetrieb einer Luftwaffe notwendig ist, zerstört ist, führten auch in dieser Woche einige ukrainische Suchoi Su-24 (Nato-Codename "Fencer") und Su-25 "Frogfoot" erfolgreiche Angriffe auf russische Bodenziele durch.
Der russische Militärkonvoi nordwestlich von Kiew, über den seit den ersten Kriegstagen berichtet wird, wäre eigentlich ein lohnendes Ziel für die Verteidiger – die ukrainische Luftwaffe hat aber keine Chance, ihn zu zerschlagen.
Verheerende Bombardements
Umgekehrt können sich russische Bomber weitgehend unbehelligt im ukrainischen Luftraum bewegen. Dies geschah in den ersten Tagen mit endphasengesteuerten Präzisionsbomben. Der österreichische Militärwissenschafter Oberst Markus Reisner weist im Gespräch mit dem STANDARD darauf hin, dass viele Angriffsverfahren der Russen bereits im Krieg in Syrien erprobt wurden – dass aber den Russen offenbar die präzise Hightech-Munition ausgehe.
Jetzt würden daher mehr Freifallbomben vom Typ FAB 250 beziehungsweise die eine halbe Tonne schwere FAB 500 mit einer Sprengkraft von 300 Kilo TNT (das ist der militärische Sprengstoff Trinitrotoluol, dessen Wirkung als Referenzgröße herangezogen wird) abgeworfen. Um diese Bomben treffsicher ins Ziel zu bringen, müssen die Flugzeuge relativ tief fliegen, was sie wiederum zu leichteren Zielen der ukrainischen Luftabwehr macht. Fliegt der Angreifer höher, trifft er weniger genau, bleibt aber selbst sicherer.
Hohe Kollateralschäden an zivilen Strukturen werden dabei billigend in Kauf genommen.
Das betrifft auch den Einsatz von gar nicht auf Präzision abzielenden Clusterbomben – diese Munitionsart, die auch mit Artillerie verschossen werden kann, entlässt über dem Ziel eine Vielzahl kleiner Sprengkörper mit Splitterwirkung. Ihr Einsatz ist international geächtet und wird von russischer Seite bestritten. Die USA aber werfen Russland vor, diese Waffe einzusetzen. Zur unmittelbaren Wirkung – dutzende, wenn nicht hunderte kleine Explosionen – kommt die Gefahr, dass viele Munitionsteile nicht sofort zünden, sondern jahrzehntelang als gefährliche Kriegsrelikte im Boden bleiben.
Als noch verheerender gelten die ebenfalls geächteten thermobarischen Bomben und Munitionsarten, die in den Medien meist als "Vakuumbombe" bezeichnet werden. Sie wurden im Zweiten Weltkrieg vom österreichischen Ingenieur Mario Zippermayr erfunden und basieren auf dem Prinzip, dass ein entzündbares Aerosol im Zielgebiet ausgebracht und Sekundenbruchteile später gezündet wird. Es kann sich dabei um Flüssigkeiten (daher die englische Bezeichnung "Fuel-Air-Explosives", in denen Benzin oder Ethylenoxid eingesetzt wird) oder Stäube (Kohle, Aluminium) handeln. Dabei entsteht eine sehr heiße Explosion, danach eine extreme Druckwelle. Da sehr viel Luftsauerstoff in der explosiven Reaktion verbraucht wird, entsteht eine starke Sogwirkung (daher "Vakuum"-Bombe), die die Lungen von Menschen in der Umgebung zerstören kann.
Diese thermobarischen Waffen können von der Größe sehr kleiner Infanteriesysteme bis hin zu Bomben, die in der Wirkung einer taktischen Atombombe gleichkommen, skaliert werden. Russland verfügt über solche Systeme, bestreitet aber deren Einsatz.
Artillerie, Panzer und Infanterie
Russland bereitet seine Angriffe – wie schon im Zweiten Weltkrieg – zunächst mit massivem Artilleriefeuer vor. Dieses kommt ziemlich genau gezielt aus Haubitzen, zusätzlich aber auch aus Raketenwerfern vom Typ "Grad" und "Smerch". Eine solche Salve kann eine Zielfläche von etwa drei Hektar (das entspricht der Größe von vier Fußballfeldern) verwüsten – und die Wirkung in bewohnten Gebieten ist besonders verheerend. Bei früheren Einsätzen haben russische Truppen solche Zerstörungen bewusst herbeigeführt – die Folgen in Grosny und Aleppo sind bekannt.
Erst nach heftigem Artilleriebeschuss werden Panzer in die betreffende Kampfzone geführt. Den ukrainischen Verteidigern ist es – wie von der Website Oryx dokumentiert – im Verlauf der ersten beiden Kriegswochen gelungen, mehr als 900 militärische Geräte zu zerstören oder sogar zu erobern. Darunter fallen mehr als 140 Kampfpanzer, 90 gepanzerte Gefechtsfeldfahrzeuge und 130 Mannschaftstransportpanzer.
Chancen der Ukraine
Was dem österreichischen Militärexperten Reisner auffällt: Die russischen Truppen haben offenbar Nachschubprobleme. Wenn einzelne Kampffahrzeuge bei den Vorstößen – vor allem im Südwesten der Ukraine werden ja bedeutende Gebietsgewinne gemacht – liegenbleiben, dann müssen sie oftmals aufgegeben werden, weil die Instandhaltungstrupps nicht nachkommen. Und rollen sie doch an, dann werden sie zu leichten Zielen von ukrainischen Jagdkämpfern, die im Sinn einer Nadelstichtaktik das russisch besetzte Territorium unsicher machen.
So gelingt es ukrainischen Kämpfern auch immer wieder, einzelne russische Fahrzeuge und Waffen zu erbeuten – eine besondere Ausbildung brauchen sie meist nicht, weil ein großer Teil der ukrainischen Bewaffnung aus Beständen der Sowjetarmee stammt oder (ebenso wie auf russischer Seite) auf deren Basis weiterentwickelt wurde. Auch sind die bei Oryx dokumentierten Verluste auf russischer Seite wesentlich höher als auf ukrainischer, was wiederum von den Russen ganz anders dargestellt wird.
Internet und Mobilfunk
Auffallend ist auch, dass der erwartete Cyberwar – noch – nicht zu einem Totalausfall der elektronischen Infrastruktur der Ukraine geführt hat. Amerikanische Analysten vermuten, dass die Russen etwa das ukrainische Mobilfunknetz auch für eigene Kommunikation nutzen.
Das ändert aber wenig an der generellen Überlegenheit der Russen. Nicht nur müssen die Ukrainer einen hohen zivilen Blutzoll tragen (dem keine zivilen Opfer auf russischer Seite gegenüberstehen), sie sind auch in den Bereichen elektronische Aufklärung (Satellitenbilder) und elektronische Kriegsführung (Störung der Kommunikation des Gegners) unterlegen.
Zudem haben sie kaum noch Mittel, ihre Küste vor einer russischen Landeoperation zu schützen – außer durch die bereits erfolgte Verminung der Strände, was wiederum langfristige Sicherheitsprobleme für die Zivilbevölkerung schafft. (Conrad Seidl, 9.3.2022)