Bild nicht mehr verfügbar.

Singen voller Inbrunst und Freude entspannt sofort – denn das tiefe Einatmen dabei stimuliert den Vagusnerv.

Foto: Getty Images/cream_ph

Forschende haben eine weitere mögliche Ursache für Long Covid entdeckt: ein beschädigter Vagus-Nerv. Das Virus soll auch diesen angreifen und dessen Funktionsmechanismen stören, schreiben Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Uni-Klinik Badalona, die insgesamt 22 Betroffene untersucht haben. Die Zahl der Studienteilnehmenden ist sehr klein, die Erkenntnisse sind deshalb mit Zurückhaltung zu betrachten. Auch haben die Forschenden keine Lösungsansätze geboten, wie man damit umgehen kann. Aber die Erkenntnis gibt einen Hinweis darauf, wie enorm wichtig der Vagus für den Körper ist. Wird er in seiner Tätigkeit beeinträchtigt, hat das weitreichende Auswirkungen. Doch was hat es mit diesem Nerv konkret auf sich?

Der Vagus ist Teil des autonomen oder vegetativen Nervensystems, das ist jenes Nervengeflecht, das ohne äußeres oder bewusstes Zutun arbeitet: "Es regelt selbstständig Atmung, Herzschlag, Verdauung und mehr, auch wenn man schläft oder nicht bei Bewusstsein ist", sagt Helmut Novak, Neurologe und Psychiater am Uni-Klinikum Salzburg.

Dieses autonome Nervensystem besteht wiederum aus zwei Teilen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Das sind zwei Gegenspieler, die sich aber gegenseitig ergänzen. Novak erklärt: "Der sympathische Teil ist für die Aktivierung zuständig, für Stressreaktionen, für den Kampf oder Fluchtreflex. Der parasympathische Teil bewirkt das Gegenteil, er senkt den Herzschlag und den Blutdruck, beruhigt, entspannt und bringt Ruhe."

Eng verbandelte Gegenspieler

Der Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems ist der Vagus: "Das ist der zehnte und längste der Hirnnerven. Er entspringt im Gehirn, tritt an der Schädelbasis aus dem Kopf aus, zieht dann entlang der großen Gefäße durch den Hals über den Brustkorb bis in den Bauch und verzweigt sich im Verlauf zu allen inneren Organen." Sein Name kommt vom lateinischen "vagare", was so viel bedeutet wie umherschweifen – eine passende Beschreibung für seinen Verlauf im Körper.

Diese beiden Teile des autonomen Nervensystems sind permanent miteinander in Abstimmung in dem Versuch, ein Gleichgewicht aus Spannung und Entspannung zu schaffen. Aber diese Balance kann durch Stress gestört werden, vor allem durch chronischen. Das kann unerwünschte, zum Teil heftige Folgen haben, sagt Novak: "Wenn viel Druck da ist, nimmt sich der Vagus erst einmal zurück, er wartet sozusagen ab." Dauert dieser Zustand aber länger an, und schafft man es nicht mehr, runterzukommen und zu entspannen, entsteht irgendwann ein Ungleichgewicht.

"Der Parasympathikus will dieses Ungleichgewicht grundsätzlich ausgleichen. Dafür schaltet er sich zu und versucht die Betroffenen so schnell wie möglich aus ihrem Hamsterrad herauszuholen. Diese Bemühungen können aber auch zu Überreaktionen führen: eine Verkrampfung der Lunge, die einen Asthmaanfall auslöst. Oder man bekommt auf einmal Durchfall, obwohl man den im Stress am allerwenigsten brauchen kann. Es kann auch ein Migräneanfall sein oder ein anders Symptom, das man dann als psychosomatische Erkrankung bezeichnet." Denn es gibt keine offensichtliche Ursache dafür, außer eben zu viel und zu lange andauernden Stress.

Nicht immer reagiert der Vagus so drastisch. Aber er schickt Alarmsignale, wenn es zu viel wird. Man muss sie nur verstehen, weiß Novak: "Chronisch erhöhter Blutdruck ist so ein Zeichen, ebenso wie Darmprobleme, Migräne, Atemwegsprobleme, Neurodermitis."

Persönlicher Schwachpunkt

Der Grund für diese Symptomvielfalt sei, dass bei jedem Menschen ein anderes Organ das schwächste Glied ist. Genau dort macht sich chronischer Stress dann als Erstes bemerkbar. Novak erklärt: "Den eigenen Schwachpunkt kann man oft daran erkennen, wie man seine Überforderung beschreibt. Etwas 'nimmt mir die Luft', es 'liegt mir etwas im Magen', 'man hat sich etwas zu sehr zu Herzen genommen', etwas 'geht einem unter die Haut' oder 'bereitet Kopfzerbrechen'. So eine Wortwahl korrespondiert tatsächlich recht oft mit den chronischen Problemen der Betroffenen."

Es wäre also wichtig, dass man auf solche Signale achtet. Doch das gelingt oft nicht, viele merken nicht einmal, dass sie dauergestresst sind – ständige Anspannung oder Schlafmangel werden zu einem Grundzustand. Und erst eine Unterbrechung dieses Musters macht das Problem bewusst, sagt der Osteopath Georg Platzer. So gibt es Menschen, die regelmäßig zu Urlaubsbeginn krank werden. Oder man hat tagelang zu wenig geschlafen, schläft einmal richtig aus – und ist erschöpfter als zuvor.

Dabei ist es relativ einfach, den Vagus zu stimulieren. Das bedeutet nicht, dass man ab sofort jeden Stress vermeiden muss – dann könnte es sogar passieren, dass man sich irgendwann zu gar nichts mehr aufraffen kann. Das Problem ist eher der Mikrostress. Wenn das Handy ständig bimmelt, eine permanente Geräuschkulisse, wenn man im Stau steht oder mehrere Sachen parallel macht. Da hilft es schon, Push-Meldungen am Handy abzustellen, fixe Mail-Bearbeitungszeiten einzuhalten, beim Mittagessen vor dem Computer keine Mails abzuarbeiten oder am Abend einfach einmal schlafen zu gehen.

Und man kann den Vagus auch ganz gezielt stärken: "Grundsätzlich wirken alle Entspannungsmethoden gegen Stress und verbessern die vagotonen Funktionen, egal ob Yoga, Meditation, Entspannung nach Jacobsen oder autogenes Training", weiß Neurologe Novak. Das hat auch Einfluss auf die physische Gesundheit: "Meditation etwa kann den Herzschlag beruhigend verlangsamen, das ist eine unmittelbare Möglichkeit, genau auf diese Funktion des Vagus einzuwirken. Oder es kann positive Entwicklungen bei einem Reizdarmsyndrom geben, weil Entspannungsübungen einen überaktivierten Darm wieder beruhigen."

Moderat sporteln

Man muss aber mit der Vaguspflege nicht so lange warten, bis man tatsächlich gesundheitliche Probleme hat. Es geht darum, auf die eigene Überlastung aufmerksam zu werden, etwa wenn man sich wegen jeder Kleinigkeit aufregt, mit dem Partner grundlos streitet oder mit den Kindern zu schnell schimpft. Und dass man etwas dagegen tut – mit Bewegung zum Beispiel. Denn obwohl man sich bei Überlastung oft wirklich erschöpft fühlt, ist Sport eines der besten Heilmittel. Nicht Leistungssport, aber moderate Bewegung, etwa ein zügiger Spaziergang. Osteopath Platzer weiß: "Es ist ein Irrglaube, dass man sich am Abend auf der Couch, vielleicht mit einem Glas Wein, am besten erholt. Ein Spaziergang in der Natur schafft das wesentlich besser."

Was sonst noch hilft: Dinge, die einem wirklich Spaß machen – wie entspannte Zeit mit der Familie, ein Treffen mit Freunden, sich Zeit für Hobbys nehmen, Tätigkeiten mit den Händen, die Musik hören, die einem guttut, singen, tanzen oder ein ausgiebiges Bad.

Und man kann sich bei der Selbsthilfe auch Unterstützung holen durch Körperarbeit. Platzer: "Einer meiner Lehrer meinte, Osteopathie sei eigentlich manuelle Neurologie. Gute Körperarbeit hat nämlich Einfluss auf das Nervensystem, sie hilft, das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus wiederherzustellen. Und der Vagus kann auch physisch beeinträchtigt sein. Spannungen im Hals- und Rückenbereich, ein unbewegliches Zwerchfell, ein gestauter, fester Bauch oder Narbenzüge können ihn einengen. Diese Spannung kann man mit manueller Körperarbeit lösen." (Pia Kruckenhauser, 13.4.2022)