Das Zeitfenster für die wirkungsvolle Eindämmung der Klimakrise schließt sich, wie der neueste Report des Weltklimarats IPCC verdeutlicht. Die Maßnahmen zur Anpassung müssen rasch angegangen werden, und zwar Hand in Hand mit sozialer Gerechtigkeit, weiß Lisa Schipper. Die Umweltwissenschafterin war eine der koordinierenden Leitautorinnen des Berichts und forscht am Institut für Umweltveränderungen der Universität Oxford. Derzeit ist sie Gastforscherin an der Universität Wien und leitet einen Kurs über Klimagerechtigkeit.

Lisa Schipper forscht an der Uni Oxford und aktuell als Gastwissenschafterin auch an der Uni Wien zu Klimawandel, Klimagerechtigkeit und zur Dekolonialisierung von Wissen.
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STANDARD: Der aktuelle IPCC-Klimareport wurde vom Krieg in der Ukraine überschattet, der während der finalen Verhandlungen begonnen hat. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Lisa Schipper: Meinem Eindruck nach waren die Vertreter:innen der Länder nicht so kämpferisch bei dem Versuch, ihre Kernbotschaften in den Bericht zu bekommen. Ich denke, jeder auf dieser Welt – abgesehen von einem Individuum – hofft, dass der Krieg bald vorbei ist. Was uns aber auch beschäftigt, ist, dass wir mit dem Report eine sehr dringliche Botschaft vermitteln müssen. Es ist absolut notwendig, schnell bessere Anpassungsmaßnahmen für die Klimakrise zu ergreifen.

STANDARD: Schon seit Jahrzehnten wird versucht, die Dringlichkeit zu vermitteln, aber kurzfristig relevante Probleme kommen dazwischen.

Schipper: Auch die Pandemie zeigte, dass finanzielle Mittel sehr schnell von Klimawandelmaßnahmen in Richtung Covid-Prävention und Wirtschaftshilfen umgeleitet wurden. Nun geschieht Ähnliches. Die Klimakrise bekommt nicht die nötige Aufmerksamkeit. Gerade dieser und der kommende Report sind aber besonders wichtig.

STANDARD: Weshalb?

Schipper: Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen behandeln sie konkreter, wie wir handeln können. In unserem Bericht geht es vor allem darum, wie wir Menschen und Ökosysteme vom Klimawandel betroffen sind, wie wir uns daran anpassen können und was Verwundbarkeit fördert.

STANDARD: Was zeigt der Bericht bezüglich der Verbindung von sozialen Fragen und Klimakrise?

Schipper: Gleichzeitig mit dem Reduzieren von Treibhausgasemissionen müssen wir angehen, was Menschen und Ökosysteme verletzlicher macht – das ist das Prinzip der klimaresilienten Entwicklung. Der Report verdeutlicht, dass es sich dabei sogar um das Kernthema der Klimakrise handelt.

STANDARD: Auch in Ihrer eigenen Forschung zeigen Sie, dass manche Anpassungsstrategien Menschen noch verletzlicher machen können. Wie sieht eine solche Fehlanpassung aus?

Schipper: Das sind oft bauliche Anlagen, insbesondere Wälle als Küstenschutz sind große Übeltäter. Beispiele gibt es von den USA bis zu kleinen Inselstaaten, in Österreich aufgrund der fehlenden Küste natürlich nicht. Auf den Fidschi-Inseln wurde ein Damm gebaut, um dem Anstieg des Meeresspiegels zu trotzen. Die Siedlung wurde dabei aber so stark versiegelt, dass bei Regen und Sturm Wasser nicht abfließen konnte und für Überflutungen sorgte. In Kiribati gibt es ähnliche Fälle. Der Schutz vor Küstenerosion an einer Stelle der Küste bewirkte an einer anderen Stelle, dass die Leute dort viel stärker unter dem Problem litten. Und wegen eines Wasserschutzwalls in Bangladesch wurde eine Überschwemmungsebene nicht mehr natürlich bewässert.

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Schutzwälle gegen Fluten (hier in Bangladesch, 2009) müssen gut geplant sein, um die Bevölkerung nicht noch anfälliger für Katastrophen zu machen.
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STANDARD: Was waren die Folgen?

Schipper: Das Wasser hatte zuvor für fruchtbaren Boden gesorgt. Vor allem Frauen lebten davon, auf dem Areal Nahrungsmittel zu gewinnen und zu verkaufen – Männer haben in dieser Region traditionell andere Einkommensquellen. Das traf also vorrangig allein lebende Frauen, alleinerziehende Mütter und ihre Familien massiv, die ohnehin oft über weniger Ressourcen verfügen. Wir sehen leider immer mehr solcher Fehlanpassungen.

STANDARD: Wie lassen sich diese verhindern?

Schipper: Ein zentrales Anliegen ist, die ansässige Bevölkerung zu involvieren – bei der Entscheidungsfindung und der Gestaltung eines Projekts –, um schädliche Konsequenzen abzuschätzen. Bei Dämmen geht es natürlich um bessere Planung und Konstruktion. Wichtige Punkte des Berichts sind auch die Wiederherstellung und der Schutz von Ökosystemen. Das reduziert Folgen des Klimawandels und die Vulnerabilität eines Systems.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Schipper: Mangroven sind in der Lage, Küstenbereiche zu schützen und gleichzeitig Lebensraum für viele Arten zu schaffen. Klar, es gibt keine perfekte Lösung, aber im Idealfall kombinieren wir diese beiden Aspekte und bauen flexiblen Schutz mit verschiedenen Vorteilen auf. Wenn bei Projekten auch soziale Gerechtigkeit berücksichtigt wird, können wir Treiber der Verletzlichkeit minimieren.

STANDARD: Wie sehen diese Treiber aus?

Schipper: Vulnerabilität ist ein komplexes Konzept. Grundlage sind Unterschiede zwischen Menschen, die etwa für Rassismus und Geschlechternormen sorgen können. Die Konsequenzen: Menschen haben ungleichen Zugang zu Ressourcen, werden an den Rand gedrängt, Macht ist ungleich verteilt. Manche können sich das Wohnen nur an bestimmten Orten, etwa in Slums, leisten – die wiederum stärker von Überflutungen und anderen Katastrophen getroffen werden. Und: Sie haben keinen Zugang zu wichtigen Entscheidungsprozessen, ihnen wird nicht zugehört. Solche Probleme müssen wir an der Wurzel behandeln, also Entwicklung und Gerechtigkeit verstärken. Wenn ein Wetterereignis eintrifft und die Bevölkerung weniger anfällig dafür, also resilienter ist, ist der Schaden geringer.

Nicht nur der größte Alpengletscher, der Schweizer Aletschgletscher, geht seit Jahren zurück und könnte bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden. Die Erderwärmung hat von den Anden bis zum Himalaya Konsequenzen – auch für den Wasserhaushalt der Region. Fehlendes Schmelzwasser im Sommer könnte in Zukunft auch den Antrieb von Wasserkraftwerken beeinträchtigen.
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STANDARD: Welche Aspekte werden in diesem Themenfeld Ihrer Ansicht nach oft übersehen?

Schipper: Ich beschäftige mich vor allem mit Geschlechter- und Glaubensaspekten. Religiöse Ansichten können beeinflussen, wie fatalistisch Leute sind – also ob sie denken, dass wir jetzt handeln sollten, oder ob wir auf ein nächstes Leben warten müssen. Das sind natürlich heikle Themen. Ich würde nicht sagen, dass sie übersehen werden, aber als Entscheidungsträger:in kann man sie nur schwer beeinflussen. Dafür müsste man eng mit religiösen Oberhäuptern zusammenarbeiten, die ebenfalls eine fatalistische Weltsicht haben können.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel dafür, wie dies mit Klimafragen zusammenhängt?

Schipper: Es gibt einen interessanten Fall aus der Schweiz, ich glaube, aus den 90er-Jahren. Eine sehr katholische Gemeinde in den Bergen nahm einen Gletscher als Problem wahr und besuchte eigens den Papst, um darum zu bitten, dass dieser Gletscher verschwindet. Durch den Klimawandel ging sein Ausmaß tatsächlich zurück, und die Leute merkten, dass sich der folgende Wassermangel negativ auswirkte, auf die Landwirtschaft beispielsweise. Sie baten also darum, das Gebet rückgängig zu machen, um den Gletscher zu erhalten.

STANDARD: Wie bizarr.

Schipper: Aber eine wahre Geschichte. Sie zeigt, dass der Glaube sehr einflussreich ist – vergleichbar mit einer Brille, durch die man die Welt betrachtet. Er kann bestimmen, was einem wichtig ist, was man verändern kann und was nicht. Wenn wir diese Weltsichten besser verstehen, haben wir ein besseres Verständnis dafür, welche Aktionen wir an bestimmten Orten durchführen können. Im Vergleich dazu ist es relativ einfach, sich dafür einzusetzen, dass Menschen in isolierten Dörfern eine Straßenanbindung haben, über die sie auch bei Katastrophen flüchten können, sowie Zugang zu Märkten, wo sie ihre Produkte verkaufen können. Oder eine sichere Energieversorgung, die ja nicht einmal in Texas oder Kalifornien bei Bränden und Fluten gegeben ist.

STANDARD: Gibt es etwas, das Menschen angesichts der Klimakrise oft missverstehen?

Schipper: Wir müssen im Kopf behalten, dass der Klimawandel wirklich beängstigend und ernst ist – und dass das allerdings vor allem daran liegt, dass in vielen Ländern des Globalen Südens so viele Menschen so nah an extremer Armut leben. Diese Kombination sorgt dafür, dass es zu besonders erschütternden Katastrophen kommt. Sie werden durch Korruption, mangelhafte Planung und die Ausgrenzung bestimmter Gruppen massiv verstärkt. Ich fand es beeindruckend, dass sich im IPCC-Bericht auch die beteiligten Staaten auf entsprechende Formulierungen einigen konnten. Der letzte Satz unseres zusammenfassenden Berichts besagt, dass sich das Zeitfenster schließt, um eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern – also nicht nur für manche Menschen. Deswegen brauchen wir Klimagerechtigkeit. (Julia Sica, 10.3.2022)