Der Krieg vernichtet nicht nur Menschenleben und Lebensräume. Er zerstört vermeintliche Gewissheiten der Koexistenz. Debatten über die Grundzüge der Moral, die sich in Friedenszeiten nur selten über die Grenzen theoretischer Beschaulichkeit hinauswagen müssen, brechen herein in die unmittelbare Wirklichkeit. Menschenleben zu retten kann nie falsch sein? "Ja, aber ...", heißt es im Krieg.

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Aus der Ukraine vertriebene Menschen erreichen die polnische Grenze.
Foto: AP Photo/Markus Schreiber

All das wird auch deutlich in den Bemühungen, Korridore für die flüchtende Zivilbevölkerung in der Ukraine einzurichten. Kiews Unterhändler waren dabei in der Zwickmühle: Die Vorstellung, Moskau könne ukrainische Städte in Trümmer schießen und dann nach Russland eskortierte Menschen als Schützlinge präsentieren, erschien unerträglich. Fluchtrouten nach Russland und Belarus völlig auszuschließen könnte aber vielfachen Tod bringen – und ebenfalls einen Erfolg Moskaus im Propagandakrieg.

Die Einigung, zumindest einige Korridore innerhalb der Ukraine zu schaffen, war ein Lichtblick. Doch bereits vorher sind Zehntausende – aus welchen individuellen Gründen auch immer – nach Russland geflohen. Das ist zwar nur ein Bruchteil derer, die im Westen Schutz suchen, doch die Medienmaschinerie des Kreml kommt mit wenig aus. Die Wut jener Ukrainerinnen und Ukrainer, denen selbst ihre russischen Verwandten nicht mehr glauben, wenn sie im Keller sitzend am Handy vom Krieg erzählen, gibt davon eine düstere Ahnung.(Gerald Schubert, 8.3.2022)