Der Historiker Oliver Rathkolb erinnert in seinem Gastkommentar an Zeiten, in denen sich das neutrale Österreich an der internationalen Politik stärker beteiligt hat, und mahnt hier ein Rückbesinnen ein.

Innerhalb weniger Tage beendete Bundeskanzler Karl Nehammer für die ÖVP die beginnende Diskussion zur Abschaffung der immerwährenden Neutralität Österreichs, die er selbst begonnen hatte, indem er sinngemäß meinte, dass 1955 die Neutralität den Österreichern von den Sowjets aufgezwungen worden sei und der Preis für den Abzug gewesen sei.

Fakt ist aber, dass bereits am 20. Jänner 1954 der republikanische US-Präsident Dwight D. Eisenhower dem Hardliner Außenminister John Foster Dulles avisiert hatte, dass für ihn "eine Neutralisierung Österreichs" nach dem Schweizer Modell der bewaffneten Neutralität ausreichend sei. Für die USA war damit die Neutralität eine akzeptable Option, lange vor den Gesprächen in Moskau.

Russlands Angriff auf die Ukraine lässt in Österreich eine alte, ewige Debatte neu aufleben: weiter neutral bleiben oder gar in die Nato gehen?
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Aber Legenden sind selbst in der Gegenwart wirkungsmächtig, so wie die populäre Meinung, dass Außenminister Leopold Figl und Bundeskanzler Julius Raab, beide ÖVP, aufgrund der guten sozialen Kontakte mit den "Russen" den Staatsvertrag mit viel Wein und Musik beim Heurigen "erstritten" hätten. Ganz im Gegenteil – Julius Raab hatte 1955 alle Hände voll zu tun, seinen Koalitionspartner, die SPÖ, von der Neutralität als der einzigen Verhandlungsoption zu überzeugen – nur der erst 1950 aus dem langjährigen Exil in Schweden zurückgekehrte Staatssekretär Bruno Kreisky unterstützte Raabs Alleingang, den die meisten Diplomaten und anfangs auch die Westalliierten ablehnten.

Aber langer Rede kurzer Sinn: Letztlich geht es bei zentralen geopolitischen Verhandlungslösungen um beinharte strategische Interessen und Konzepte – damals im Kalten Krieg ebenso wie heute im brutalen Aggressionskrieg Wladimir Putins und der neuen russischen Nomenklatura gegen die Ukraine.

Offen angeklagt

Daher stellt sich für mich die Frage, ob die Neutralitätspolitik Österreichs nicht künftig wieder stärker europäische und globale strategische Entwicklungen mitberücksichtigen sollte. Außenpolitische Entscheidungsträger und in der aktuellen Turboglobalisierung mehr noch Manager und Unternehmen müssen ihre Geschäftspraktiken mit Diktaturen und autoritären Regimen hinterfragen.

Im Kalten Krieg war die Linie am Ballhausplatz klar: einerseits alles zu tun, um einen Atomkrieg zu verhindern, andererseits trotz Entspannungspolitik die ideologische Konfrontation – parlamentarische Demokratie versus kommunistische Diktatur – offen und permanent weiterzuführen. Als einziger Politiker nützte beispielsweise Bundeskanzler Bruno Kreisky die Unterzeichnung der Helsinki-Akte, des zentralen Dokuments der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, um offen die Menschenrechtsverletzungen in der damaligen Sowjetunion anzuklagen. Er wurde zwar protokollarisch beim nächsten Staatsbesuch in Moskau abgestraft, aber die Nomenklatura nahm ihn ernst.

Nicht hinter der EU verstecken

Vergleichbare sichtbare Beispiele einer aktiven Neutralitätspolitik zur Durchsetzung der universellen Menschenrechte suchen wir in den letzten Jahren vergeblich. Auch Österreichs offizielle Politik im Rahmen der Uno ist ziemlich ideenlos geworden – und das, obwohl Wien der dritte UN-Amtssitz ist. Welche Initiativen setzt Österreich im Rahmen der Uno heute, um den unmenschlichen Krieg in der Ukraine zu stoppen und sofort zumindest einen Waffenstillstand zu erzielen? Man kann sich nicht immer hinter der EU verstecken.

Ohne Julius Raab und engagierte Diplomaten wie den ehemaligen ÖVP-Außenminister Karl Gruber wäre die Internationale Atomenergiebehörde wohl nie nach Wien gekommen, ohne Bundeskanzler Bruno Kreisky wäre das ÖVP-Projekt der Ära Josef Klaus, der Bau des UN-Konferenzzentrums, nie realisiert worden, obwohl es letztlich aus parteipolitischer Kleinkariertheit die ÖVP und ein Volksbegehren mit allen Mitteln zu verhindern versuchten.

Es ist an der Zeit, nicht nur die Neutralität als völkerrechtliche Leitlinie und als Verfassungsgrundsatz einfach außer Diskussion zu stellen, sondern sich wieder – wie in der Zeit des Kalten Krieges oder des EU-Beitritts – grundsätzlich mit der internationalen und der Weltpolitik aktiv und mit Langzeitkonzepten zu beschäftigen und strategisch zu denken. Und dazu gehört der politische Umgang mit nichtdemokratischen Regimen im Allgemeinen und mit der Russischen Föderation, aber auch mit China im Besonderen. Übrigens, Österreich ist für die zentrale kommunistische Führung in Peking der wirtschaftsstrategische "Hub to Germany".

Noch mehr bestätigt

Der Primat der Durchsetzung von Wirtschaftsinteressen verbunden mit bis ins Persönliche und Private gehenden Freundlichkeiten mit Politikern, die die Menschenrechte mit Füßen treten, hat sich – wie die vielfachen österreichischen Charmeoffensiven gegenüber Putin im Sport (Stichwort Olympische Spiele) bis hin zur Hochzeitseinladung durch eine Außenministerin – nicht ausgezahlt. Ganz im Gegenteil – der Verzicht auf demokratiepolitische permanente Auseinandersetzungen hat den Präsidenten der Russischen Föderation in seinen Allmachtsfantasien noch mehr bestätigt und viele russische Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer von der internationalen Akzeptanz von seiner Person überzeugt.

Dialog zur Konfliktlösung und Konfliktvermeidung ja, demokratiepolitische Selbstaufgabe nein! Es gibt keine "guten Diktatoren"! (Oliver Rathkolb, 9.3.2022)