Katharina Lobinger forscht zu den Themen visuelle Kommunikation und Bildethik.

Foto: Privat

Wien – Die "New York Times" hat mit einem Foto auf ihrer Titelseite, das getötete Zivilistinnen im Ukraine-Krieg zeigt und ein russisches Kriegsverbrechen dokumentieren soll, eine Debatte über Medienethik ausgelöst. Wie viel an Brutalität des Krieges ist den Leserinnen und Lesern zumutbar, und wie steht es um Persönlichkeitsrechte und den Opferschutz? Die österreichische Wissenschafterin Katharina Lobinger forscht zum Thema Bildethik. Sie hält zwar nicht das Foto per se, sehr wohl aber die Art der Veröffentlichung für eine Grenzüberschreitung.

STANDARD: Die "New York Times" sorgt mit der Veröffentlichung eines Fotos mit Leichen aus dem Ukraine-Krieg für Diskussionen und erntet dafür sowohl Zustimmung als auch Kritik. Wie sehen Sie das?

Lobinger: Ich sehe die Bildverwendung sehr kritisch. Natürlich hat die Öffentlichkeit ein Interesse daran, Informationen, auch visueller Natur inklusive Bildberichterstattung, aus dem Kriegsgebiet zu bekommen. Andererseits müssen nicht alle Informationen auch visuell gezeigt werden. Zum Beispiel können wir uns gut vorstellen, wie eine erschossene Person aussieht, wenn wir dies lesen. Wir brauchen nicht den Fotobeweis dafür. Mit einer Bebilderung, die vielleicht nicht unbedingt nötig ist, bewegt man sich schnell vom Informationsgebot in den Bereich des Sensationalismus.

STANDARD: Und hier?

Lobinger: Dieser Fall ist jedoch sehr zwiespältig. Er zeigt, wie eine Familie auf der Flucht getötet wurde. Also Menschen, die versuchten, dem Krieg zu entkommen. Ich würde also sagen, ja es ist gerechtfertigt, das Bild zu zeigen, da es die Brutalität des russischen Vorgehens zeigt. Allerdings ist es meiner Ansicht nach eine medienethische Grenzüberschreitung, die Gesichter nicht zu verpixeln. Das hat mit dem Persönlichkeitsschutz der Opfer zu tun und auch damit, dass Angehörige so in jedem Fall die Opfer erkennen.

STANDARD: Sehen Sie eine Grenzüberschreitung?

Lobinger: Diese traumatische Wirkung, und Bilder haben nun mal starkes emotionales Wirkpotenzial, ist kaum auszumalen. Für Angehörige wird es damit fast unmöglich, diese Bilder zu vergessen oder ungesehen zu machen, und sie werden dauerhaft die Erinnerung an die Verstorbenen prägen. Um dies zu veranschaulichen, hilft ein einfaches Gedankenexperiment: Fragen wir uns doch: Wie würde es uns gehen, geliebte Personen so zu sehen? Diese Art der Berichterstattung nimmt in Kauf, Hinterbliebene der Opfer, die damit selbst zu Opfern dieses Krieges wurden, durch die Berichterstattung erneut zu Opfern werden zu lassen. Aus medienethischer Sicht ist anzumerken, dass die Persönlichkeitssphäre eines Menschen über dessen Tod hinaus gewahrt werden muss.

STANDARD: Wo verläuft diese Grenze bei der Veröffentlichung? Ist es die Identifizierbarkeit, die hier zweifellos gegeben ist?

Lobinger: Ja, die Identifizierbarkeit macht einen großen Teil aus. Es gilt jedoch generell, sehr vorsichtig und zurückhaltend beim Zeigen von Opfern vorzugehen. Denn wie gesagt: Auch die Leserinnen und Leser müssen nicht alles als visuellen Beweis sehen, was sich auch verbal erzählen lässt.

STANDARD: Man hätte das Foto auch verpixeln können, oder?

Lobinger: Nicht können, sondern müssen, meiner Ansicht nach.

STANDARD: Welche Rolle spielt es, dass das Foto gleich auf dem Cover ist und nicht erst im Blattinneren?

Lobinger: Dadurch kommt dem Bild besondere Prominenz zu. Die prominente Positionierung ist ein sogenanntes Ikonisierungsmerkmal, das dafür sorgt, dass bestimmte Bilder zu Ikonen eines Ereignisses werden, wie zum Beispiel das "Napalm-Mädchen" – im Übrigen auch ein medienethisch sehr kritisches Bild, oder das Bild von Alan Kurdi.

STANDARD: Mit dem Foto soll ja ein russisches Kriegsverbrechen dokumentiert werden. Haben solche Aufnahmen das Potenzial, den Krieg und die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen?

Lobinger: Ja, das sah man zum Beispiel bei Alan Kurdi. Die Aufmerksamkeit, die mit diesem Bild einherging, konnte die öffentliche Meinung in Großbritannien zur Flüchtlingskrise prägen und die Regierung unter Druck setzen, sich mehr zu engagieren.

STANDARD: Gerade Alan Kurdi ist ein berühmtes Beispiel, das für viele Diskussionen gesorgt hat. War die Veröffentlichung der Fotos des dreijährigen toten Flüchtlingskindes aus Syrien legitim? Sein Vater wollte ja, dass sie in Umlauf gebracht werden.

Lobinger: Ich denke, dass das Foto eine wichtige Rolle spielt, um wachzurütteln und für das Thema Flucht zu sensibilisieren. Allerdings gibt es auch hier mehrere Varianten des Fotos. Und so schrecklich das Motiv auch ohne das Gesicht des Alan Kurdi zu sehen ist, so wichtig ist es doch, meiner Ansicht nach, die Persönlichkeitsrechte des Kindes zu wahren. Wie wenig nachhaltig so ein Wachrütteln der Öffentlichkeit ist, zeigt ja die Geschichte. Bei länger andauernden Problemen und Krisen flacht die Aufmerksamkeit wieder ab. Daher muss man retrospektiv die Frage stellen: Kann diese kurzfristige Aufmerksamkeit, die kurzfristige Reaktion auf den Schock die Interessen des Opfers aufwiegen? Ich denke nicht.

STANDARD: Auch im Falle der Ukraine nicht?

Lobinger: Man muss zudem bedenken, dass es nicht das einzige Foto aus dem Kriegsgebiet ist. Das Publikum ist also über die Vorgänge prinzipiell informiert. Hier ist die Frage also: Was leistet diese Foto im Sinne des Interesses der Öffentlichkeit, was nicht durch andere Berichterstattung abgedeckt werden kann? Man sollte nämlich auch bedenken, dass das Foto nicht auf der – schon prominenten – Seite des Covers einer Tageszeitung mit breiter Zirkulation bleiben wird. Das Bild wird Teil einer Verbreitungskaskade und sich durch unzählige Shares und Posts in verschiedensten Kontexten auf Social Media zirkulieren. Wo es plötzlich neben ganz anderen Themen auftaucht und – erneut – zwar aufrüttelt, aber auch das Potenzial hat, Userinnen und User zu traumatisieren. (Oliver Mark, 9.3.2022)