Im Zentrum der Universitätsstadt Charkiw liegen zahlreiche Gebäude in Trümmern. Die Umgangssprache hier ist vorwiegend Russisch.

Foto: AFP / Sergey Bobok

Seit mehr als 30 Jahren ist die Ukraine bereits unabhängig. Jetzt will Russlands Präsident Wladimir Putin das Rad der Zeit zurückdrehen. Der Transformationsforscher Philipp Ther beschäftigt sich mit der jüngeren Entwicklung in beiden Ländern.

STANDARD: Die Transformationsprozesse in Russland und der Ukraine sind nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr unterschiedlich verlaufen. Warum eigentlich?

Ther: Ein grundsätzlicher Unterschied liegt darin, dass Russland aus der Konkursmasse eines Imperiums hervorgegangen ist und sich bald als Verlierer dieses imperialen Zusammenbruchs begriffen hat. Es gab aber ein paar Jahre, in denen dieser postimperiale Komplex noch nicht so stark war und in denen man auch die Vorteile einer Entwicklung zu einem normalen, demokratischen Staat gesehen hat.

STANDARD: Wann hat sich das geändert?

Ther: Diese Phase war vor allem wegen der Wirtschaftskrise in den 1990ern von kurzer Dauer. Aufgrund der Rubelkrise stand Russland 1998 am Rande des Staatsbankrotts, ein großer Teil der Mittelklasse ist ein weiteres Mal verarmt. Das hat den Weg nach Westen, genauer in den westlichen Kapitalismus, delegitimiert. Putins Macht und die Hoffnungen, die ursprünglich in ihn gesetzt wurden, beruhen auf diesem doppelten Zusammenbruch: erst dem der Sowjetunion und dann dem der Marktwirtschaft, die sich in Russland als Raubtierkapitalismus etabliert hat.

STANDARD: In Teilen trifft das aber auch auf die Ukraine zu.

Ther: Die Ukrainer haben 1991 mit großer Mehrheit für die Auflösung der Sowjetunion gestimmt. Auch davor gab es eine aktive Nationalbewegung, vor allem im Westen des Landes und in Kiew. So gesehen war die Ukraine eine befreite Nation. Und was die Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren betrifft: Diese war zwar fast so schlimm wie in Russland, hatte aber weniger verheerende Auswirkungen. Es gab zudem keinen so schockhaften Moment wie die russische Rubelkrise.

STANDARD: War der Entfremdungsprozess schleichend, oder gab es Schlüsselmomente?

Ther: In seiner zweiten Amtszeit ist Putin ab 2004 auf einen antiwestlichen und antiukrainischen Kurs umgeschwenkt. Die Ukraine hingegen bewegte sich während der Orangenen Revolution aktiv auf den Westen zu. Hier trennten sich die Wege der beiden Länder. Putin hat Russland immer mehr in eine Autokratie verwandelt, während die Ukraine – wenngleich mit einigen Stolpersteinen – einen demokratischen Weg eingeschlagen hat.

STANDARD: Gab es ein ähnliches Auseinanderdriften aber nicht auch innerhalb der Ukraine?

Ther: Ich fand die westliche Wahrnehmung, wonach es sich um ein gespaltenes Land handelt, immer schon übertrieben. Die Ukraine ist flächenmäßig der zweitgrößte Staat Europas. Selbstverständlich gibt es dort starke regionale Unterschiede, ähnlich wie in Italien oder in Deutschland. Auch die Außenwahrnehmung, wonach die Bevölkerung entlang der Umgangssprache gespalten ist – also die häufige Gleichsetzung von russischsprachig mit prorussisch –, ist falsch. Man konnte jetzt sehen, wie sich etwa Charkiw, eine nahezu komplett russischsprachige Stadt, gegen die russische Armee verteidigt.

STANDARD: Ganz im Osten haben aber bereits 2014 zwei Regionen die prorussischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk ausgerufen.

Ther: Dort hatte der 2014 gestürzte Präsident Wiktor Janukowytsch seine Hochburgen. Putin hat den Regionalismus im Donbass dann für eine Intervention ausgenutzt. Doch die Ukraine ist eine Staatsbürgernation, in der es nicht auf die Umgangssprache oder gar die Abstammung ankommt, wie im traditionellen mitteleuropäischen Nationsverständnis, sondern auf das Bekenntnis zu bestimmten Werten. Die Demokratie dort hat seit 2014 besser funktioniert als etwa in Ungarn. Es gab einen freien Wettbewerb von Parteien und Medien, faire Wahlen und nicht zuletzt eine nahezu reibungslose Übergabe der Macht von den jeweiligen Verlierern der Wahl zu ihren Gewinnern.

STANDARD: Wie sehen Sie Putins Behauptung, die Ukraine müsse "entnazifiziert" werden?

Ther: Das ist eine Chiffre für den Sturz der demokratischen Regierung, allerdings hat Putin schon 2013/2014 dieses Narrativ von den ukrainischen Faschisten gepflanzt, mit erstaunlicher Resonanz im Westen, vor allem unter der Linken. Neofaschistische Gruppierungen und Parteien sind in der Ukraine nach 2014 schwach geblieben. Sie haben zwar regionale Hochburgen, was historische Wurzeln hat, aber das zu einer faschistischen Gefahr aufzubauschen, ist übertrieben. Rechtsextreme Parteien haben zuletzt in anderen Ländern Europas deutlich bessere Wahlergebnisse erzielt. Das lag nicht zuletzt an der aktiven Unterstützung aus Russland, zum Teil sogar durch Finanzspritzen. Diese Verflechtungen sollten wir jetzt rasch aufdecken, auch in Österreich. (Gerald Schubert, 9.3.2022)