Der Krieg kennt keine Helden: Das Leid an der Grenze zu Polen ist groß, tausende Ukrainer verlassen ihre Heimat.

Markus Rohrhofer

Ausgeflaggt und mit schwerem Gerät geht es in Richtung Ukraine

Rohrhofer

Linz/Krakowez – Zwei Klammern und ein wenig Doppelklebeband reichen manchmal aus, um ein klares Zeichen zu setzen. Christoph Bolzer schwingt sich gekonnt aus der Kabine des mächtigen Schwerfahrzeugs, in der Hand die blau-gelbe Fahne der Ukraine. Ein paar Handgriffe später ziert das Nationalemblem des aktuell vom Krieg schwer gebeutelten Landes den Lkw-Kühlergrill.

Es ist nicht irgendeine Fahne, die sich der 37-jährige Unternehmer und Lektor an der Fachhochschule Wien mit sichtlichem Stolz an den Kühler heftet: "Mit dieser Fahne ist meine Freundin Katharina, die Ukrainerin ist, 2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew gestanden."

Blau-gelbes Jawort

Eigentlich war für den heurigen Sommer die Hochzeit des jungen Paares gemeinsam mit der Familie in der Ukraine angedacht. Doch der Krieg hat die Pläne gewaltig durcheinandergewirbelt. "Es war nicht leicht in den letzten Tagen. Katharina hat angesichts der Situation in ihrer Heimat fast nur mehr geweint." Es ist der Moment, als der passionierte Lkw-Fahrer die Fahne einpackt und beschließt, "aktiv etwas zu tun". Und das ist der Auftakt zu einer Fahrt ins Ungewisse.

40 Tonnen an Hilfsgütern stellten die beiden oberösterreichischen Speditionen Gartner und Transbritannia gemeinsam mit Mitgliedern der ukrainisch-griechisch-katholischen Kirchengemeinde in Linz rund um Natalia Rekrut, die in Linz ein kleines Stoffgeschäft betreibt, auf die Beine. Drei Lkws voll mit Medikamenten – vorwiegend Insulin –, warmen Decken, Gewand, Elektrogeräten, Wasserflaschen, Babynahrung, Taschenlampen, Akkus, Batterien. 924 Kilometer sind es bis an die ukrainische Grenze, zwanzig weitere Kilometer bis in eine kleine Stadt im Lwiwska-Oblast (Bezirk Lemberg) im Westen des Landes, dem Zielort des Hilfskonvois.

"Trucking for Freedom"

Die Fahne hat Bolzer mittlerweile wieder sicher in der Fahrerkabine verstaut. Die Fahrt unter dem Motto "Trucking für Freedom" führt mit einer mehrstündigen Ruhepause über Tschechien nach Polen – und endet zunächst unfreiwillig dort. Der Weiterfahrt steht nämlich die polnische Bürokratie im Weg: An einem Schlagbaum unmittelbar an der Grenze wird klar, dass es für Lkws eine spezielle Registrierung braucht.

Es ist später Nachmittag und der Zeitpunkt, an dem das Team in den drei Schwerfahrzeugen erkennen muss, dass es zeitlich eng wird. Noch vor Beginn der Dunkelheit wollte man eigentlich ukrainischen Boden befahren. Die Nervosität steigt aber auch im nahen Kriegsgebiet. Wiederholt meldet sich Pater Andrij Kityk telefonisch. Der griechisch-katholische Priester ist der Kontaktmann auf ukrainischer Seite. Und er mahnt zur Eile. Ab 22 Uhr sei eine Ausreise aus der Ukraine unmöglich, die Übergabe müsse also noch in den Abendstunden stattfinden.

14 Stunden Wartezeit

Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt, ist, dass die Registrierung der Fahrzeuge wohl das geringste Problem darstellt. Es folgen zermürbende 14 Stunden Wartezeit an der polnisch-ukrainischen Grenze. Kilometerlange Staus und erneut bürokratische Hürden machen schon die Einreise beinahe unmöglich. "Wir sind eine EU-Außengrenze, und wir arbeiten hier noch. Auch wenn dort drüben Krieg ist", erläutert die junge Grenzbeamtin in gebrochenem Englisch. 40 Tonnen an Ladung werden aus dem Land ausgeführt, 40 Tonnen müssen verzollt werden. Das Argument Hilfskonvoi sticht in dieser eiskalten Märznacht nicht.

Die Bürokratie im Grenzland endet aber nicht am Schranken. Stunden später findet man sich im Neonlicht eines Büros der ukrainischen Grenzbehörde wieder – und wird mit der Aufforderung nach den Ladelisten konfrontiert. Der Vorlage einer Ladeliste folgt ein Kopfschütteln. Drei Lkws heißt drei Ladelisten. Doch eine exakte Inventarliste gestaltet sich bei Tonnen an unterschiedlichen Spenden schwierig. Was die Grenzbehörde nur mäßig beeindruckt und das Verfassen neuer Ladelisten notwendig macht. Erst gegen vier Uhr Früh öffnet sich für den Konvoi die Grenze. Und es offenbart sich das wahre Ausmaß der humanitären Katastrophe: An der Grenze warten tausende Flüchtlinge, Mütter mit Babys im Arm, in Decken gehüllte kleine Kinder, kranke und alte Menschen. Schreie der Verzweiflung hallen durch das Dunkel der Nacht. Die widerwärtige Fratze des Krieges zeigt sich hier in unerbittlicher Form.

Geistliches Treffen

Christoph Bolzer steuert das Schwerfahrzeug langsam an den Menschenmassen vorbei in Richtung einer unbeleuchteten Landstraße. Das Gefühl, auf Kriegsgebiet zu fahren, sorgt für Beklemmung – auch wenn man im Westen der Ukraine von den eigentlichen Kampfhandlungen nichts mitbekommt. Die Bilder der Flüchtlinge haben sich tief in das Gedächtnis eingebrannt. Und auch die Unsicherheit, was in den nächsten Stunden passieren wird, verfehlt ihre Wirkung nicht.

Es ist 4.30 Uhr, als sich Pater Andrij telefonisch meldet. Er warte in seinem schwarzen Kleinwagen am Straßenrand. In der Stimme des Priesters schwingt Hoffnung mit. Zumindest für einen Moment scheinen Angst und Verzweiflung den Kürzeren zu ziehen.

Der Gottesmann mit schwarzem Vollbart und brauner Priesterkutte betätigt am Straßenrand nur kurz die Lichthupe. Mehr an Begrüßung lässt die angespannte Situation nicht zu. Die Fahrt führt weiter ins Landesinnere, vorbei an zahlreichen Checkpoints; Soldaten mit umgehängten Kalaschnikows haben sich hinter einem Schutzwall aus Sandsäcken positioniert. In leeren Ölfässern lodert das offene Feuer. "Nur nicht fotografieren", warnt Pater Andrij eindringlich.

Geheimes Lager

Die holprige Straße mit den tiefen Schlaglöchern führt in eine Ortschaft und weiter zu einer alten Lagerhalle. Die Erleichterung, spät, aber doch zumindest am Zielort angekommen zu sein, ist unter allen Beteiligten groß. Doch zum Entladen ist es längst zu spät. Müde zieht sich die Crew für ein paar Stunden Schlaf in die Lkw-Kabine zurück.

Gegen acht Uhr morgens übernimmt das Brummen eines Gabelstaplers die Weckerfunktion. Pater Andrij ist mit einer kleinen Crew eingetroffen. Fünf Personen stehen 40 Tonnen Hilfsgütern gegenüber. Womit klar wird, dass sich die Rückreise nach Österreich verzögert – und das Entladen zum länderübergreifenden Hilfsprojekt im wahrsten Sinn des Wortes wird. "Wir sind so dankbar. Ich kann es nicht glauben, dass wir heute ein Land im Krieg sind. Aber auch wenn es schwierig ist: Wir werden dieses Land wieder gemeinsam aufbauen und hier in Frieden leben", ist der junge Theologe überzeugt.

Leid in Endlosschleife

Stunden später setzen sich die Lkws wieder in Richtung Grenze in Bewegung. Erschöpfung paart sich mit einem Gefühl des Glücks. Das Gefühl, das Mögliche getan zu haben, um ein wenig Leid zu lindern, sorgt in dieser unbegreiflichen Situation für eine wohltuende innere Wärme. Und gibt Kraft für die nicht minder strapaziöse Heimreise. An der ukrainischen Grenze steht alles. Lkws, Pkws, Flüchtlinge. In Mengen, die das Auge kaum fassen kann. Man ist als Zuschauer gefangen in diesem Bild, sitzt hilflos fest an einem Ort, an dem unsagbares Leid in einer scheinbaren Endlosschleife vorbeizieht. Es ist der Moment, in dem sich die Anspannung der letzten Tage in so mancher Träne auflöst.

Erst zwölf Stunden später fährt der Hilfskonvoi wieder auf polnischem Boden. Noch einmal meldet sich Pater Andrij und erzählt, dass sich eine Bürgermeisterin einer ostukrainischen Kleinstadt aus einem Luftschutzbunker bei ihm gemeldet habe – und ein Teil der österreichischen Hilfsgüter dorthin unterwegs sei. "Heute ist ein guter Tag", befindet der Geistliche. "Ja, heute ist ein guter Tag", findet auch Christoph Bolzer, während er die Fahne faltet und in seinem Rucksack verstaut. (Markus Rohrhofer, 10.3.2022)