Lina kann sich nicht erinnern, die Straßen und Lokale ihrer Heimatstadt jemals so belebt gesehen zu haben. Die 18-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, trägt einen Teller mit Donuts an einem Regal vorbei, in dem schwere, in Leder gebundene Bücher aus der Sowjetzeit als Dekoration dienen. Das Kaffeehaus in der moldauischen Hauptstadt Chişinău, in dem die junge Frau zweimal in der Woche nach der Schule kellnert, befindet sich nur 60 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt, und das merkt man.

Denn überall in der Stadt sind Menschen zu sehen, die aus Odessa, Kiew oder Charkiw geflohen sind. Junge Mütter, Großeltern sitzen ihre Zeit in den Kaffeehäusern ab. Wie zwischengeparkt und mit den Gedanken noch im alten Leben starren sie mit versteinerten Gesichtern auf die Displays ihrer Smartphones, während die Kinder quengeln, oder sie brechen in Tränen aus, wenn sie mit den Ehemännern, Freunden und Verwandten in der Ukraine telefonieren.

"Wir versuchen, hier normal weiterzuarbeiten", sagt Lina, "aber wir sprechen dabei die ganze Zeit über die Ukraine." Auf Menschen wie sie selbst habe der Krieg bereits konkrete Auswirkungen: Lina gehört zu den Hunderttausenden der russischsprachigen Minderheit im Land. "Die Stigmatisierung von allem, was mit Russland assoziiert wird, macht auch vor uns nicht halt. Ich habe große Angst, dass wir nun alle in einen Topf geworfen werden", sagt sie.

Das Expogelände in Chişinău beherbergt seit zwei Wochen Flüchtende.
Foto: EPA / Dumitru Doru

Die Republik Moldau mit 2,6 Millionen Einwohnern ist das wirtschaftlich schwächste Land Europas – und im Gegensatz zu Polen und den baltischen Staaten kein Mitglied der Nato. Und auch wenn die proeuropäische Regierung vor einigen Tagen mit der Ukraine und Georgien gleichzog und kurzfristig einen Antrag auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union gestellt hat, so bleibt dieses Szenario noch länger ein theoretisches.

Risikofaktor Transnistrien

Die abtrünnige Republik Transnistrien im Osten des Landes stellt hingegen von jeher einen sehr konkreten Risikofaktor dar: Mindestens 1.300 Soldaten hat Russland dort stationiert und hält sich außerdem eines der größten Waffendepots Europas mit mindestens 20.000 Tonnen Munition dort. Laut Informationen des Außenministeriums sei aber nur knapp die Hälfte davon brauchbar.

Erst am Mittwoch hatte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte mitgeteilt, dass Russland bis zu 800 Soldaten aus der international nicht anerkannten Republik Transnistrien in den russischen Krieg gegen die Ukraine schicken könnte. Nicu Popescu, der moldauische Minister für auswärtige Angelegenheiten und europäische Integration, versichert hingegen, dass es derzeit keine Anzeichen dafür gebe, dass die lokalen Sicherheitskräfte oder russischen Soldaten in Transnistrien einen Einsatz in der Ukraine vorbereiten würden. "Allerdings können wir nicht vorhersagen, was morgen oder nächste Woche passieren kann. Gerade ist die Lage in und um Transnistrien herum ruhig, aber wir müssen auf alle Risiken vorbereitet sein." Moldau, so Popescu weiter, gebe Russland keinen Grund für einen Angriff. Man sei laut Verfassung neutral und schlage sich, obwohl man die russischen Kriegshandlungen verurteile, auf keine Seite.

Täglich fliehen Tausende über die Grenze nach Moldau.
Foto: EPA/Ciro Fusco

Mehr Druck gehe derzeit von der großen Anzahl an Geflüchteten aus, die seit Beginn des Krieges die Grenze überquert haben. Von den 300.000 seien 140.000 noch immer im Land, so Popescu. Moldau habe bisher die höchste Anzahl von Flüchtlingen pro Kopf aufgenommen. Noch kommen die allermeisten bei Freunden, Verwandten oder anderen Privatleuten unter, lediglich etwas mehr als 10.000 wurden in den staatlichen Aufnahmezentren untergebracht.

Hilfestellung in Privatinitiative

Die Moldauerin Evgenia Krechuck – 77 Jahre alt, Wollmütze, Hornbrille, blauer Daunenmantel – läuft mit einem alten Mobiltelefon in der Hand durch die Notunterkünfte, die bis vor kurzem noch als Corona-Test- und Impfzentrum gedient haben und noch immer so riechen. Sie versucht auf eigene Faust, private Transfers nach Bukarest zu organisieren. Die meisten Airlines haben ihre Flüge ausgesetzt.

"Es ist einfach schrecklich", sagt Krechuck. "Wir sind ein kleines Land und haben nur einige Tausend Soldaten. Wenn diese russischen Faschisten hierherkommen, haben wir keine Möglichkeit, uns zu wehren." Ja, sie ist überzeugt: Wenn die Ukraine die Russen nicht aufhält, wird die Republik Moldau als Nächste dran sein. (Daniela Prugger aus Chişinău, 11.3.2022)