Flüchtlingskind vor der Erstinformationsstelle der Caritas: Die Feldbetten zum Ausruhen stehen wegen Sicherheitsbedenken der ÖBB während des Tages nicht zur Verfügung.

Foto: Robert Newald

Ein lauter Knall, dann tausendfaches Splittern. Die Bombe, die in einer nahen Werkstatt einschlug, ließ sämtliche Fenster des Wohnhauses bersten – es war der Moment, in dem sich Alexander zur Flucht entschloss. Nun steht der 19-Jährige, der sich zu Hause in Odessa sein Architekturstudium als Koch finanzierte, mit zwei bescheidenen Taschen in der Halle des Wiener Hauptbahnhofs. Ob er weiterreisen oder sich in Österreich niederlassen wolle? "Ich habe keine Ahnung", sagt Alexander. Erst müsse er einmal einen klaren Gedanken fassen.

Lange bleibt der Neuankömmling nicht allein. Ein kaum älterer Bursche, dicke Kopfhörer um den Hals, drückt ihm einen Infozettel in die Hand. Vor drei Jahren sei er selbst aus der Ukraine gekommen, erzählt der Student, jetzt will er Landsleuten bei den ersten Schritten ins Exil unter die Arme greifen.

Hilfsbereiter Empfang

Viele Helferinnen und Helfer tragen sich am Bahnhof an, zur Koordination dient die Freiwilligenplattform where2help.wien. Oft sind es Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die ihre Russisch- und Ukrainischkenntnisse einsetzen. Sie dolmetschen am Ticketschalter, helfen beim Einloggen ins WLAN, weisen den Weg zur U-Bahn – "Kleinigkeiten halt", wie es eine junge Frau ausdrückt, die auf einem Schild in kyrillischer Schrift unter blau-gelber Flagge "Informatsiyi" anbietet.

Jene Menschen, die steigenweise Orangen, Äpfel, Semmeln oder Fruchtsaftpackerln anschleppen, lassen sich anhand roter Jacken und Leiberln als Caritas-Mitarbeiter identifizieren. Die Hilfsorganisation hat im Bahnhof eine Erstinformationsstelle eingerichtet, um die Flüchtlinge zur passenden Stelle zu dirigieren.

Wer nicht ehestmöglich in den nächsten Zug steigen will, wird ins Ankunftszentrum in der Engerthstraße nahe dem Stadion verwiesen. Dort werden nicht nur Notquartiere vermittelt, sondern auch Beratung sowie medizinische und psychische Betreuung angeboten. Dank einer Vereinbarung von Gesundheitskasse und Ärztekammer können sich Flüchtlinge aus der Ukraine auch ohne Sozialversicherungsnummer bei Kassenärzten behandeln lassen. Der Reisepass reicht.

Die Mehrheit will weiter

Drei Viertel der Ukrainer wollten allerdings weiterreisen, zeigen die bisherigen Erfahrungen der Caritas. Das sorgt am Bahnhof für Trubel – so sehr, dass Augenzeugen von beschämenden Zuständen berichteten: Die erschöpften Flüchtlinge müssten auf harten Sitzen oder auf dem Boden ausharren, statt zumindest für eine Weile ausspannen zu können.

Stein des Anstoßes ist, wie vom freien Journalisten Michael Bonvalot thematisiert, ein von Bundesbahn und Caritas betriebener Nachtwarteraum in einer ehemaligen Postfiliale: Die 50 Feldbetten stehen den Bedürftigen erst ab 22 Uhr offen; am Mittwoch sperrte das Quartier wegen einer Panne sogar noch später auf. Sicherheitstechnische Gründe ließen keinen ganztägigen Betrieb zu, heißt es aus der ÖBB, doch man arbeite an einem neuen Wartebereich für die Geflohenen.

Sicherheitsbedenken seien auch der Grund für eine Aktion am Mittwochabend: Flüchtlinge mussten einen Zug aus Budapest, der nach München weiterfuhr, gegen ihren Willen verlassen. Er sei schon bei der Ankunft mit 350 statt 300 Passagieren überfüllt gewesen, argumentiert die ÖBB, die nach eigener Angabe täglich etwa 1000 Gratis-Sondertickets für Weiterreisende ausstellt. In den Zügen gebe es kostenlose Snacks und ab Donnerstagnacht an Bord ukrainische Infos darüber, wohin man sich in Wien wenden könne.

Am Wiener Hauptbahnhof kommen den ganzen Tag fliehende Ukrainerinnen vorbei. Trotz Hilfsbereitschaft wollen die meisten weiterziehen.
DER STANDARD

Wenig Platz für Wartende

Beim ersten Lokalaugenschein Donnerstagmittag ist der Bahnhof, wo in den letzten vier Tagen insgesamt 14.500 Ukraine-Flüchtlinge ankamen, von denen die Mehrzahl aber gleich weiterfuhr, nicht überlastet, aber allemal stark frequentiert. Die Plätze in den ohnehin nicht allzu großzügigen Wartebereichen sind weitestgehend besetzt. So manche Familie hockt auf Taschen und Säcken.

Am Abend ist die Menge weiter angewachsen, zwischen 500 und 800 Menschen dürften es nun sein. Auf ausgebreiteten Decken campieren Frauen und Kinder, Männer sind rar. Die Polizei maßregelt Eltern, weil Buben bis zu den Bahnsteigen hinauflaufen, unter manchen Wartenden macht sich gereizte Stimmung breit.

Um zehn Uhr hat sich vor dem mit den Betten ausgestatteten Nachtraum bereits eine Schlange gebildet, doch entgegen der Auskunft der ÖBB wird dieser auch an jenem Abend erst eine Stunde später aufsperren. An die große Glocke hängt die Caritas das Angebot ohnehin nicht. Denn diesmal gibt es einen anderen Plan.

Überfüllte Nachtzüge

Aus Ungarn ist die Kunde gedrungen, dass sämtliche Nachtzüge bereits wieder überfüllt weggefahren seien. An Zusteigen und Weiterfahren nach Deutschland ist nicht zu denken, also sollen die Flüchtlinge über Nacht weg vom Bahnhof gebracht werden.

Freiwillige Helferinnen schwirren als Dolmetscherinnen aus, um den Menschen zu versichern, dass sie pünktlich zu den Zügen am nächsten Tag gebracht würden. Die im städtischen Krisenstab vertretene Berufsrettung koordiniert den Transport, Notquartiere sind offenbar vorhanden. Kurz nach zehn fährt der erste Bus in Richtung eines Hotels ab.

Ruhig läuft die Aktion an. Viele wirken erschöpft – aber auch erstaunlich gefasst.

"Wir haben keine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen", sagt eine Frau, die hinter der Maske sogar ein Lächeln hervorblitzen lässt. Ihr Heimatort liege zwischen Kiew und der von Norden vorrückenden russischen Armee, bald seien alle Brücken der Umgebung zerstört gewesen. Eine Woche habe sie mit ihren Töchtern und Nachbarn in einem Keller ohne Heizung und elektrisches Licht ausgeharrt, ehe sie mit erhobenen Händen über Trümmer hinweg fliehen konnte.

An einen längeren Aufenthalt fernab der Heimat denke ihre Familie nicht – vielmehr an eine rasche Rückkehr. Ob das realistisch ist? "Wir können nur glauben und beten." (Gerald John, Colette M. Schmidt, 11.3.2022)