Das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl, in dem sich 1986 eine Reaktorkatastrophe ereignete, ist in der Hand russischer Truppen.

Foto: EPA / Russian Defence Ministry

Am Mittwoch riss der Kontakt ab, berichtet Natalia. Nach dem Einmarsch der Russen und der Besetzung des Gebietes um das Ex-Atomkraftwerk Tschernobyl war es zunächst noch möglich, eine Verbindung zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten. Doch seit die Stromversorgung lahmgelegt wurde, ist auch das nicht mehr möglich. Natalia stammt aus Slawutytsch am östlichen Dnepr-Ufer.

Hierher wurden die Einwohner Pripyats umgesiedelt, woher die Familie ursprünglich kommt. Verwandte Natalias waren Teil der Liquidatorenteams, die nach 1986 die Folgen der Katastrophe beseitigten, sie gehören auch heute noch zu den Angestellten der Anlage. Einer davon gehört zu jenem Team, das seit der russischen Besetzung die Anlage im Dauereinsatz am Laufen hält.

Kein Personalwechsel

Die Russen hätten das Kommando am 24.2. um 15 Uhr übernommen, während das Team der Nachtschicht aufgrund von Schießereien noch nicht abgelöst werden konnte, sagt Natalia. Einen Personalwechsel hat es seither nicht gegeben. Das bedeutet unter anderem, dass seit zwei Wochen bestimmte Tests nicht durchgeführt wurden und Überwachungsequipment nicht mehr betreut wird, weil die nötigen Experten nicht anwesend sind. Dem Team mangelt es an Nahrung und Medizin. Nicht einmal Zugang zu frischer Kleidung gebe es, was jedoch elementar sei, erklärt Natalia: "Niemand kann sagen, welcher kumulierten Strahlung das Personal mittlerweile ausgesetzt war."

Die Kontrollinstrumente der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) wurden von den Russen rasch abgedreht, sodass es keine unabhängigen Quellen zu den Vorgängen in Tschernobyl und den Strahlenwerten der Umgebung gibt – wie mittlerweile auch im AKW Saporischschja. Die Situation sei keine Geiselnahme in herkömmlichem Sinne – alle Mitarbeiter des Kernkraftwerks Tschernobyl seien im Prinzip von den russischen Soldaten gehaltenen Geiseln, die Situation erinnere sie aber mehr an eine "Einzelhaft in einem Gefängnis". Die Soldaten würden auch keine physische Gewalt gegen die Belegschaft anwenden. Aber die Anlage ist jetzt unter Kontrolle von Personen, die keine Ahnung von Sicherheitsprotokollen haben und diese missachten.

"Fehler programmiert"

"Wie lange kann jemand in dieser Situation geistig gesund bleiben?", fragt Natalia. Das Personal schlafe auf den Schreibtischen und verlasse die Büros nur unter der Bewachung durch bewaffnete Soldaten. Seit einem Verantwortlichen für eines der nuklearen Lager die Flucht gelungen ist, wurde die Bewegungsfreiheit des Personals weiter eingeschränkt und die Kommunikation auch innerhalb der Anlage unterbunden.

Zwar hat die IAEA nach dem Stromausfall eine akute Gefährdung ausgeschlossen. "Es kommt nicht darauf an, ob akut Gefahr besteht", sagt Natalia. Das Problem sei der Mangel von qualifiziertem und fittem Personal, wenn Gefahren auftauchen während das Kraftwerk von Verrückten ohne Rücksicht auf Sicherheitsprotokolle kontrolliert werde: Dumme Fehler seien dann programmiert. (Michael Vosatka, 10.3.2022)