Lilo "hatte" Kinder, wie Schauspielerinnen oder Königinnen Kinder haben, so beschreibt es die Autorin und Tochter Andrea Roedig.

Foto: Andrea Roedig

Lilo war eine schamhafte Frau, die Kleidung, die geliebte, war ihre Haut. Ich habe sie so gut wie nie nackt gesehen, auch als Kind nicht, und das war keinesfalls nur der Prüderie der Zeit geschuldet. Wir durften morgens früh nicht ins Badezimmer kommen, während sie sich zurechtmachte fürs Geschäft, was eine geschlagene Stunde dauerte. Ich habe im Bett gelegen und auf diese cremefarbene Schiebetüre gestarrt, hinter der sie morgens früh um sechs Uhr verschwand.

Peinlichkeiten

Niemals stellte sie ihre Brüste zur Schau, tief ausgeschnittene Kleider fand sie ordinär, so wie alles, was quellend, hervorschauend, überfließend war. Sie war sauber, gut geformt, hoch geschlossen und doch ein wenig herausfordernd – das war ihr Stil, und niemals wäre sie, wie die Mutter meiner Schulfreundin Gabi, zu Hause im Mieder herumgelaufen.

Unbedeckt zu sein war ihr unangenehm, vielleicht sogar unerträglich. Sie habe sich beim Gynäkologen auch einmal mit Strumpfhose auf den Untersuchungsstuhl gelegt und gefragt, ob es nicht auch so gehe, erzählte sie, aber wahrscheinlich war das nur eine ihrer Geschichten. Denn eigenartigerweise handelten ihre Erzählungen, ihre Witze, oft von Fäkalien.

Sie liebte es, ausführlich von Peinlichkeiten zu berichten, und so erfuhr ich auch von ihrem Schließmuskel, der bei meiner Geburt versagte. Das Gesicht des Arztes, der mich auf die Welt holte, sei komplett besprenkelt gewesen mit ihrem Kot. Ein braun besprenkeltes, zersprenkeltes Gesicht zwischen ihren hochgelegten Beinen. Wie peinlich. Man lacht. (…)

Im Laden stehen

War sie stolz, überwältigt im Mutterglück? Lilo reagierte freundlich auf Kinder, es gibt eine Eintragung in ihrem Tagebuch, dass sie "süße Kinder" beobachtet habe. Ihre Puppen liebte sie, auch kleine Hunde, alles, was niedlich war. Aber die Rolle als Mutterglucke stand ihr nicht, und die wurde von ihr auch nicht erwartet. Die Chefin muss im Laden stehen. Bis kurz vor meiner Geburt und auch der meines Bruders, drei Jahre später, blieb sie hinter der Theke; kurze Entbindung, und weiter ging es auf dem Laufsteg.

Ganz selbstverständlich für das Milieu sorgte sich eine Kinderfrau ums Grobe, "Schwester Edith" zu Beginn, sehr jung war sie, mit schwarzem, vollem Haar, eine schwierige Person, die mich an sich band und in Konkurrenz zu Lilo trat. (…)

Das Fotoalbum aus diesen ersten Jahren ist in hellen Stoff gebunden mit einem kleinen applizierten Reh vorne darauf. Im Vordruck auf den ersten Seiten sind Themen vorgegeben, "Bilder und Aufzeichnungen aus seinem Leben": "Die Geburt", "Die ersten Schritte", "Der erste Zahn", "Gesundheitliche Entwicklung" – die Rubriken sind mit der Handschrift meiner Mutter ausgefüllt und mich wundert, dass bei dem kleinen einzutragenden Stammbaum die Geburtsdaten meiner Großeltern fehlen – auch das Geburtsdatum ihres eigenen Vaters hatte Lilo nicht im Kopf.

Strandmützchen

Kleines Detail aus den Sechzigern: Alle sind ins Buch einzutragen, Vater, Großeltern, Geschwister, Paten – aber eine Zeile für "Mutter" gibt es nicht. Sie führt das Buch, unerwähnt. Den ersten Zahn hatte ich demnach am 11. Juni 1963, ich wog 6,5 Pfund bei der Geburt und hatte im ersten Lebensjahr eine "stärkere Rachitis". – "So fuhr sie mit Schwester Edith im achten Monat für 14 Tage nach Holland, nach Wijk aan Zee. Sie wurde durch die gute Seeluft sehr kräftig und gesund", steht dort. Zum ersten Mal alleine laufen konnte ich am 12. Dezember 1963 – dann hören auch die Eintragungen auf, "die ersten Schreib- und Zeichenversuche" sind nicht mehr vermerkt. (...)

Lilo "hatte" Kinder, wie Schauspielerinnen oder Königinnen Kinder haben. Die ersten Fotos, schwarz-weiß, zeigen mich als Wonneproppen, von unten direkt zwischen die Beine fotografiert: ein Mädchen. "Zum ersten Mal fotogen", schreibt Lilo unter eines der Bilder, auf dem das Baby lacht. "Die Morgentoilette", "Gymnastik". Die Bilder zeigen mich mit Edith, die mich badet, die mich hochhebt, sie zeigen mich mit Edith in Holland am Strand. Ich trage Sonnenhut und ein weißes Mohairjäckchen.

Andrea Roedig auf dem Schoß ihrer Mutter Lilo, Jahrgang 1938 – ein Kriegskind. Der soziale Aufstieg hatte seinen Preis.
Foto: Andrea Roedig

Lilo hat Unsummen ausgegeben, um uns auszustaffieren. Den Preis eines weiteren Strandmützchens mit passendem Höschen, kariert, so süß, hat sie niemandem verraten. Immer waren wir gut angezogen mit Lederjacken, Lederhosen, schönen Rollkragenpullovern, ich soll sogar einen Minipelzmantel gehabt haben. "Edith gibt die Strandlehre" – "Auf zum Bummel nach Bererwijk!" – "Ich finds herrlich erholsam". Lilo gibt mir eine Stimme. "Achtung, Edith knipst" – "Andrea Burg".

Am Ende der zwei Wochen kommt sie auch nach Holland, vermutlich gemeinsam mit meinem Vater. Wer macht die Fotos? Jetzt sind sie in Farbe. Ich throne auf Ediths Arm, sie schaut mich freundlich an, man könnte sie für meine Mutter halten. Dann sitzen Edith und Lilo im Sand; ich bin auf dem Schoß meiner Mutter. Edith schaut zu mir, beugt sich zu mir, das ist ihr Job. Lilo, längere wellige Haare hat sie da, im Sommerkleid, blickt nach vorne ins Leere.

Kränkungen

Es fällt mir schwer, mich in sie hineinzuversetzen, gerade jetzt, wo ich in der Erzählung auftauche. Das "Ich" stört. Fühle ich mich oder sie? Es sind ja nur meine Augen, die misstrauischen, die von hinten her schauen. Aber so lautet die Kränkung: Sie hat mich nicht im Arm. Sie hat mich auf dem Schoß, sie hat mich im Kinderwagen, auf Distanz. Und es ist etwas Abgründiges in ihr, etwas Unerreichbares, etwas, das keine Intimität zulässt, es sei denn um den Preis einer Katastrophe. Sie ist immer hier und anderswo.

Am Strand von Wijk sitze ich auf ihrem Schoß, ich beuge mich nach vorne, zur Kamera hin, da ist jemand, den ich kenne, mein Vater. Von ihr, Lilo, sieht man nur den Mund. "Tag der Abreise, ich habe mich gut erholt." Sie kommentiert sich in mir, in diesem Album verrät sie, was ihr gefällt: Bummeln, Strandurlaub, Erholen; und Bewundertsein. Andrea in der Sandburg, ein properes, weiß behutetes Baby, umrundet von anderen neugierigen Kindern: "Zum ersten Mal Herrin der Lage."

Ist Lilo Herrin der Lage? Es gibt genug Geld in der Kasse, um großzügig zu leben, es gibt Personal, und sie ist die Chefin, sie kann bestimmen, gestalten, sie ist eine harte Arbeiterin. Aber was geschieht nachts, wenn sie sich auszieht? Was passiert zwischen ihr und diesem noch zartgliedrigen Mann mit seinen Bedürfnissen? Vielleicht erstarrt sie und gerät in eine leichte Panik beim Anfassen. Als wäre da etwas, tief verborgen, ein Trauma eben, das aufbricht bei Berührung. Oder eines, das jetzt erst geschieht.

Anfangs ist er geduldig

Etwas jedenfalls passiert in dieser Ehe. Sie KANN das schlecht, ohne Kleidung. Der Mann an ihrer Seite ist vielleicht nicht ganz so gepflegt, so sauber, wie sie es gern hätte. Ekelt sie sich? Sie wird ihn erziehen. Anfangs ist er geduldig, halbwegs zärtlich, wenn auch nicht besonders geschickt.

Er führt sie ein in das, was man so Liebe nennt, er kennt sich da schon ein bisschen aus. Sie will reden, immer nur reden, über ihre Ängste, die irgendwie auch mit der Mutter zu tun haben, mit diesem Geschlagenwerden, und wer weiß, mit was noch, einem Erlebnis, das sie vielleicht auch vergessen hat, sie war ja ein hübsches Kind.

Irgendwann wird das anstrengend. Der frische Ehemann hört ihr zu, er hat durchaus einen Hang zum Komplexen, aber er mag es nicht kompliziert, und im Grunde ist er ein Draufgänger und ein gnadenloser Egoist. Er wird sich schon holen, was er braucht, bei ihr und später auch anderswo. (…)*

Den Durst stillen

Wir müssen über Milch reden, meinen Vater und den Porsche. Die Frauen in den Sechzigern stillten nicht unbedingt, es war nicht Mode, und Lilo hatte wenig Milch. Eine ihrer spaßigen Erzählungen war, dass ich mit hochrotem Köpfchen versuchte, an ihrer Brust zu saugen, etwas herauszubekommen dort, wie ich mich anstrengte und nicht wusste, was los war – aber es kam nichts oder zu wenig.

Mein Bruder, dreieinhalb Jahre jünger als ich, wurde gleich mit der Flasche genährt, und als es meinem Vater, der ihn nachts füttern sollte, nicht schnell genug ging mit dem kleinen Wurm, schnitt er kurzerhand ein Stück vom Nippel des Saugers ab. Da machte der Sohnemann große Augen, so schnell konnte der gar nicht schlucken, wie die Milch kam.

Die Grausamkeit meines Vaters war anders gelagert als die Lilos, offen egozentrischer, brutaler, klarer. (…) Er konnte großzügig sein, lustig, cool in seinem Draufgängertum, aber er musste einen tiefen Hunger, einen unergründlichen Durst stillen. Zuerst er, immer zuerst seine Bedürfnisse. Zwei Frühstückseier für Papi. Es war ein Zwang, er konnte nicht anders.

Das Auto war auch so ein Teil, das er für sich brauchte. Die drei großen Metzgermeister Düsseldorfs gaben sich klare Statussymbole. Gappisch, immer hochpreisig, fuhr Cadillac; Emil Schmitt, mit dem größten Betrieb, einen Buick und mein Großvater, Josef Roedig, – solide und zum Lohn fleißiger Arbeit – Mercedes.

Wie alles anfing

Am Schlachthof traf mein Großvater, der nun heimatlose King Lear, die alten Kollegen. Sie werden ihn geneckt haben: "Na, was macht der Sohn?" – "Wie läuft das Geschäft?" – "Packt er das?" – "Die Jungen heute sind nur noch aufs Vergnügen aus, kaufen sich schicke Autos, denken nicht mehr ans Arbeiten." Sein Sohn sei nicht so einer, der sei kein Aufschneider, warf sich mein Großvater ins Zeug und wusste nicht, dass da schon der Porsche Cabrio vor dem Laden stand.

"Der erste Porsche war bald Schrott": Andrea Roedig über allerlei Beschädigungen.
Foto: P. Steinkellner

"Mit dem Porsche", sagten die Großeltern immer, "hat alles angefangen." Diesen Affront hat Josef Roedig seinem Sohn nicht verzeihen können, diesen Vertrauensbruch, und auf dem Schlachthof ließ er sich aus Scham und Enttäuschung kaum mehr blicken. Den Porsche zu kaufen war – trotz allem – eine der besten Leistungen meines Vaters, finde ich. Porsche, 356 C (oder B). Von heute aus betrachtet wirkt er erstaunlich klein, eher wie ein aufgemotzter VW, aber damals war das ein gefährliches Geschoss und als Zweisitzer mit 90 oder 130 PS absolut unvernünftig für einen Familienvater von erst einem, dann zwei Kindern.

Doch dieser Sportwagen gab mir ein nachhaltiges Gefühl von "kick-ass" fürs Leben. Der Stoff der heruntergeklappten Notsitze hinten kratzte unter meinen nackten Beinen im Sommer, die Glühspirale des Zigarettenanzünders glomm gelblich-orange, und bald roch es nach dem frisch angebrannten Tabak der Roth-Händle meines Vaters. Mit silbernen Hebelchen wurde das zurückgeschobene Cabriodach festgeklemmt, und die Rückscheibe aus matt durchsichtigem Kunststoff ließ sich per Reißverschluss separat öffnen, sodass auch bei geschlossenem Verdeck Fahrtwind ging.

Die Angst auslagern

Ich bewunderte meinen Vater, der den Wagen beschleunigte, bis die Tachonadel 200 zeigte. Es war ein Heidenspaß. Sonntagmorgens fuhr er allein auf den Nürburgring, drehte zwei Runden und war dann zum Frühstück wieder zu Hause. In den Urlauben flogen wir mit Lilo und der Kinderschwester nach Spanien, Lloret de Mar war noch eine gute Adresse, und Papi kam mit dem Porsche nach. Er suchte das Gefühl, mit 200 in die Kurve zu gehen und zu wissen: Mit 202 fliegst du raus.

Manchmal verlieh mein Vater seinen Liebling – als Hochzeitsgeschenk für seinen jüngeren Bruder etwa, der einen Heidenrespekt vor dem Wagen hatte. Lilo habe ich nie am Steuer gesehen. Es gibt ein Bild von ihr auf dem Fahrersitz des offenen Porsche, sie trägt ein rotes Sonnenhütchen, der Wagen ist abgestellt auf einer der leeren Straßen rund um Düsseldorf, und es sieht so aus, als habe sie ihn auf sicherer Strecke auch einmal ausprobieren wollen oder sollen.

Aber im Grunde war Gas geben die Rolle meines Vaters; ihre war die der Sorge, der Ängstlichkeit. "Franz-Josef", flehte und bat ihre Stimme, wenn er etwas tat, was zu gefährlich war, wenn er uns als Babys so hoch in die Luft warf, dass man nicht sicher sein konnte, ob es mit dem Auffangen auch klappen würde. Sie lag zur Erholung am Pool, las und bräunte sich, er probierte alles aus: Wasserski, Motorradfahren, er nahm mich mit vorne auf dem Hals des Pferdes im Galopp. Er suchte die Gefahr und lagerte die Angst einfach aus, an Lilo, an andere.

Gleich noch einmal

Der erste Porsche war bald Schrott. Mein Vater wollte mit mir, ich war noch fast ein Baby, ins Freibad fahren. Unter dem Protest von Lilo hatte er mich mit dem Sicherheitsgurt vorne auf dem Beifahrersitz platziert. Auf der Autobahn dann übersah ein Laster beim Überholen den kleinen Sportwagen und überrollte ihn wie eine leere Blechdose. Nur wenige Zentimeter hinter dem Kopf meines Vaters wurde das gesamte Heck weggedrückt. "Jetzt ist es vorbei" habe er im Moment des Aufpralls gedacht.

Wäre er ein anderer gewesen, er hätte das als Warnung gedeutet, vielleicht als Strafe: Siehst du, der Wagen ist nichts für dich, bleib bescheiden, in einem soliden Mercedes wäre das nicht passiert.

Aber mein Vater kaufte nach diesem Unfall denselben Porsche gleich noch einmal, vermutlich die schnellere Version mit den 130 PS. Das war sein Motto: sofort wieder ins Wasser springen, wenn du fast ertrunken bist, sofort wieder rauf aufs Fahrrad nach dem Sturz, bevor die Angst sich verhärten kann.

Ausraster

Ich habe nicht die blasseste Erinnerung an den Crash. Genauso wenig erinnere ich mich an diese andere Szene, die mein Bruder erzählt: Mein Vater wäscht und poliert seinen Wagen in der Garage – ist es Sonntag? Wir Kinder spielen mit Fingerfarbe, dürfen vielleicht die Wände anmalen, glücklich. Nichtsahnend wische ich meine beklecksten Finger am feinen Fensterleder ab, das für die Politur des Wagens bestimmt ist. Als mein Vater das sieht, packt ihn die blinde Wut.

Er "rastete aus", so nennt das mein Bruder, habe mich hochgenommen und in die Ecke des Raumes geworfen. Ich erinnere mich nicht. Nicht an den Unfall, nicht an diesen Jähzorn. Ich erinnere mich an die Garage und ihre Holztore mit den runden Bullaugenfenstern, an Sonne und an dunklen Schrecken, auch später, wenn mein Vater laut jemanden rief, egal zu welcher Gelegenheit, wobei seine Stimme auf diese ganz bestimmte Weise kippte.

Wieder in unserer Wohnung angekommen, sei ich wie verstört gewesen, wie eingedrückt, Lilo habe gefragt, was los sei, aber ich habe nichts sagen können. Wie viele Frauen versuchen, ihre Kinder zu schützen, ihre Männer zu konfrontieren, zu begütigen, zu zähmen? Mit Drohen, mit Flehen, mit Bitten. Sicher, meine Mutter war eine von ihnen. (Andrea Roedig, ALBUM, 13.3.2022)