"Mein Vater brüllte, dass er nirgendwo hinfahren will", schreibt Nelia Vakhovska am 9. 3.

Foto: Imago / CTK Photo / Paval Nemecek

Durch ihren Kontakt mit dem österreichischen Schriftsteller Martin Pollack erreichen uns eine Mail und ein Textbeitrag der ansonsten in Kiew lebenden Literaturwissenschafterin und Übersetzerin Nelia Vakhovska, die über die Jahre viel mit Martin Pollack zusammengearbeitet hat. Am 28. Februar schreibt die Ukrainerin in einem Text:

"Ich habe es am 25. Februar geschafft, aus Kiew rauszukommen, und bin auf dem Land. Hier ist es relativ sicher, ich höre zwar die Artillerie im Wald, ab und zu fliegen russische Sturmflieger an, sie schießen fürchterlich laut, aber relativ fern. Die Lebensmittelläden sind leer, die Apotheken und anderen Geschäfte haben zu. Es mangelt an Brennstoff, deshalb behalte ich mein Auto für den Fall, dass das Schlimmste kommt und ich mich irgendwo verstecken muss. Wie viele andere habe ich gelernt, die Fenster zu verdunkeln und früh schlafen zu gehen – immerhin habe ich den Luxus, schlafen zu können.

Wie Millionen meiner Landsleute lese ich permanent Nachrichten, versuche zu verstehen, was im Nachbarstädtchen passiert, in dem mein Vater lebt, ob die Panzer nicht in seine Richtung kommen, was mit den Freunden überall ist, insbesondere in Kyjiw und Charkiw. Schwierig ist das alles, ja unerhört. Die Russen benutzen sogar die verbotenen Kassettenbomben – gegen das Volk, das sie ‚verteidigen‘ wollten und ‚Brüder‘ nannten, schießen auf Kinderheime und Wohnblöcke. Es tut unglaublich weh.

Was kommt nach dem Krieg?

Um nicht vom Stress gelähmt zu bleiben, versuche ich mir vorzustellen, was ich nach dem Krieg machen werde, aber meine Fantasie versagt. Eine in Kyjiw verbliebene Freundin hat neulich gefragt: ‚Mädels, werden wir überhaupt überleben?‘ Ich hoffe sehr darauf. Das Einzige, was mir jetzt zur Zukunft einfällt, ist eine coole Fete, die wir schmeißen werden, wenn die beiden Diktatoren ums Leben gekommen sind – als verurteilte Verbrecher eben. Dann werden wir nach Moskau kommen und tanzen.

Lässt man die Emotionen beiseite, macht es der Verstand nur noch schlimmer: Wie sehr sind wir vom Westen in seiner Rivalität mit Russland manipuliert worden? Was nützen uns die Sanktionen, die erst in der mittelfristigen Perspektive die Positionen Russlands schwächen? Wer wird davon profitieren, nachdem wir es mit Blut bezahlt haben? Verrückt und unmenschlich ist das alles.

Leider kann ich schwer einschätzen, was ‚der Westen‘ jetzt machen kann. Wir brauchen Deeskalation, dringend. Und sollte Putin die ukrainische Regierung nicht ernst nehmen (was der Fall zu sein scheint), müsste jemand anderer an den Verhandlungstisch – die EU oder die Nato. Die Aufrüstung wird die Anzahl der Opfer nicht reduzieren, dieser Brand muss mit politischen Mitteln gelöscht werden, und zwar sofort."

Geänderte Umstände

Auf die Bitte, ihren Text weiterzuschreiben, haben wir am Mittwoch, 6. März, wieder von Nelia Vakhovska gehört, "die Umstände haben sich leider geändert", schreibt sie. Und: "Ich erwarte keine Schwierigkeiten bei einer Ausreise, unmöglich ist aber, sich aus diesem Land herauszureißen. Vorerst bleibe ich in Rivne, mit der Hoffnung, dass nach 7–10 Tagen die versprochene Abkühlung kommt, weil beiden Seiten die Ressourcen ausgehen ..." Vakhovska hat uns noch einmal einen Beitrag geschickt, den sie am 9. März geschrieben hat:

"Vor drei Tagen wurde meine Heimatstadt Malyn zum ersten Mal bombardiert. Der Luftangriff auf das Städtchen dauerte eine halbe Stunde. Im zehn Kilometer entfernten Dorf, in dem ich mich versteckte, zitterten die Gläser und seufzte die Erde. Die Katzen verkrochen sich unters Bett, ich begann zu fluchen.

Am frühen Morgen, kurz vor fünf Uhr, lärmten die Kampfflieger wieder los. Ich zog mir die Decke über den Kopf und erstarrte im kindlichen Glauben: Wenn ich mich nicht bewege, bleibt ein Teil der Welt erhalten und sie werden mich nicht finden. Zwei Stunden lang hörte ich den Einschlägen zu und versuchte zu erraten, ob sie sie aus Malyn oder einem der Nachbarstädte stammten. Danach wurde es still. Ich las in den Nachrichten, dass das lokale Militärkommissariat angegriffen wurde: Ein Mensch sei ums Leben gekommen, die Brücke, die Kirche, einige Häuser und zwei Supermärkte beschädigt. Die Brände habe man rechtzeitig gelöscht.

Einen halben Tag fühlte ich mich wie abgestorben. Etwas schnürte meinen Körper zusammen, und ich wusste nicht, wie ich das loswerden konnte. Das Essen hatte keinen Geschmack. Der Strom war aus. Ich beschloss, das sonnige Wetter zu nutzen und im Garten zu arbeiten. Langsam kamen die Gefühle zurück. Am Nachmittag kamen meine Verwandten über den Damm aus dem Nachbarstädtchen, das evakuiert worden war. Der Abend war gemütlich und familiär, ich konnte ein wenig lesen und sogar einschlafen. Durch die Ohrenstöpsel verwechselte ich das Schnarchen meiner Tante mit dem fernen Geräusch der Flieger und schreckte immer wieder auf.

Wir verkrochen uns

Am nächsten Abend kamen die Russen wieder. Nach dem ersten mächtigen Einschlag, vermutlich drei Kilometer von uns entfernt, verstummte das Dorf ohne Licht. Wir kämpften mit unserem Verstand: Die sollen auf ukrainisches Militär geschossen haben? Ein friedliches Dorf mit zehn Sommerhäuschen, das kann sie doch unmöglich interessieren. Dann folgte ein heftiger Einschlag in Richtung Stadt. Und dann noch einmal. Wir verstummten und verkrochen uns in unsere Betten.

Um Mitternacht gab es wieder eine Internetverbindung, und ich las auf Telegram: sieben Häuser zerstört, drei Erwachsene und zwei einjährige Kinder ermordet. Der Einschlag soll nicht weit vom Haus meines Vaters passiert sein. Ich las die Nachrichten auch vom besetztem Cherson, dass viele Frauen durch die ‚Befreier‘ vergewaltigt worden sind. In der Flut der fürchterlichen Bilder aus den zerstörten Städten Mariupol und Charkiw suchte ich nach den Anzeichen, dass jemand dort überleben konnte.

Ich lauschte nach Fliegern. Atemübungen halfen nicht mehr. Ich starrte in die Dunkelheit und fragte mich, wie wir hier überleben sollen, wenn den Russen ein Durchbruch gelingt (warum sonst würden sie unser aussterbendes Städtchen beschießen) und ihre Panzer uns von allen Wegen abschneiden. Wenn ihnen die Stirn geboten wird, hier, mit Raketenwerfern und Kanonen. Was werde ich tun, wenn sie zum Fleddern kommen?

Suche nach sicheren Routen

Als der Morgen anbrach, saß ich im Bett und suchte nach den verbliebenen sicheren Routen. Beide großen Straßen, mit denen man die nahe gelegenen größeren Städte erreichen könnte, wurden entweder umkämpft oder es fehlten Infos über die Lage. Im Netz der Landstraßen durch verschlafene Dörfer schimmerte etwas Hoffnung. Ein ehrenamtlicher Helfer der ukrainischen Streitkräfte hat mir geschrieben, es sei jetzt nicht die Zeit, seine Chancen zu verpassen.

DER STANDARD

Mein Vater brüllte, dass er nirgendwo hinfahren will. Die Prognosen zur Kriegsdauer oszillieren zwischen sechs und zwölf Monaten. Ich überließ dem Vater meine zwei süßen Katzen, ein Smartphone, mit dem man in der Wildnis telefonieren kann und etwas Bargeld und nahm das nächste Auto in Richtung Westen, das genau die Route fahren wollte, die ich selbst gewählt hätte. Drei Stunden und 250 Kilometer später stieg ich in eine noch friedliche Welt aus, in der die Straßen gefegt werden und der Cappuccino noch schmeckt, in der es an Arzneien und Lebensmitteln nicht mangelt.

Hier wird bis spät in der Nacht das Licht nicht ausgemacht, und ein Aufheulen auf der Straße bedeutet bloß ein schlechtes Auto und keine drohende Bombengefahr. Ich liege schlaflos im Bett, lese von den erneuten Luftangriffen und versuche in einer Fremdsprache zu beschreiben, was ich in der Muttersprache nicht über die Lippen bringe: Ich habe sie verlassen. Die Schlinge zieht sich um meinen Hals und lässt den Schrei nicht raus. Autos zurück gibt es nicht." (Nelia Vakhovska, ALBUM, 13.3.2022)