Manchmal ist es an der Zeit, seine Lebensentscheidungen zu hinterfragen. Auch wenn es schmerzhaft ist. Etwa weil sich himmelblaue Plastikkugeln ins Rückenmark bohren. Die Frage, wie es kommt, dass ein geriatrischer Millennial wie ich in Amsterdam in einem Bällebad dümpelt, ist zunächst nicht eindeutig zu beantworten. Eindeutig ist hingegen, dass sich ein Bällebad nur leidlich für eine Existenzkrise eignet, da man auf keinen Fall in Rückenlage geraten darf, sonst treibt einen jeder hadernde Strampler tiefer dem Boden entgegen.

Man kann nicht nur in Bällen, sondern auch in duftenden Plastik-Marshmallows baden, hüpfen, schaukeln und im Spiegelkabinett akrobatische Leistungen vollbringen.
Foto: Oda Schaefer

Und während das Bällebecken zwar seicht genug ist, um sich beim Hineinspringen den Knöchel zu verknacksen, ist es gleichzeitig tief genug, dass einem beim Hinabsickern aus der endlosen Tiefe des Raumes immerzu Bälle auf den Schädel prasseln. Sodass das Denkvermögen doch stark eingeschränkt ist. Ein Paradoxon. Weniger vielschichtig betrachtet, muss man sagen: Ich wollte eigentlich nur ein schönes Foto haben.

Spielplatz für Erwachsene

Die Bällebäder sind die beliebtesten Räume im Wondr – einer jener neuen, zeitgeistigen Locations, in denen man sich vor fantasievollen Kulissen ablichtet und diese Videos oder Fotos auf sozialen Medien wie Instagram und Tiktok teilt, weswegen solche Orte auch Selfie-Museum, Instagram-Museum oder Social-Media-Installation genannt werden. Sie sind irgendetwas zwischen Bühnenbild, Spielplatz und riesiger Fotobude.

Das Wondr ist mit 15 bunten Räumen, einem Outdoorbereich im Miami-Palmen-Stil ("Pink Beach") und einer Rollschuhbahn eines der größten Selfie-Museen Europas, 1.500 Besucher an guten Tagen. Es gibt ein Café, einen Shop und Spinde, damit man drinnen die Hände frei hat. Wondr bezeichnet sich selbst als "experience play ground", Erlebnisspielplatz. Ist das wirklich der Playground von Influencerinnen? Cara Delevingne (43 Millionen Instagram-Follower) hat hier schon geschaukelt, und die Sängerin Anne-Marie (neun Millionen Instagram-Follower) hüpfte auch schon ins Bällebad. Immerhin. Aber macht das Spaß? Und wenn ja, wem?

Kitsch und überzuckerte Ästhetik im Wondr in Amsterdam.
Foto: Arielle Froza

Ein normaler Freitagnachmittag. Man wartet vor dem Wondr bis zum Einlass hinter einer VIP-Kordel, die pünktlich zum gebuchten Timeslot geöffnet wird. "Bitte die Laufrichtung einhalten. Immer nur vorwärts, nie zurück", erklärt eine junge Mitarbeiterin. Vor dem Teddyraum ist dann logischerweise erst mal Stau. Im Eck sitzt ein gigantischer hellbrauner Teddybär. Seine Halskrause aus Pappe erzählt schweigend Geschichten von Besucherinnen, die seinen Kopf zu oft zum Küssen herunterzogen. An der Wand hundert kleine Teddys, die einen großen Teddykopf formen, in der Raummitte eine riesige rosa Teetasse mit, genau, noch mehr Bären.

Gesehen werden

Wer in diesem Bärchenbecher thront und sich mit seinen ein, zwei Bauchmuskeln nach vorne streckt, um sich einen Teddy zu greifen und damit das wogende Wohlstandsbäuchlein fürs Foto zu kaschieren, spürt nicht nur die Blicke hunderter Knopfaugen auf sich, sondern auch jene der wartenden Besucher direkt vor sich. Aber wer hierherkommt, will gesehen werden. Eine blonde Mutter mit akkuratem Haarschnitt, die so wirkt, als habe sie sich für diesen Besuch mit den drei Kindern extra den Freitagnachmittag von Meetings freigeschaufelt, mahnt schon nach 30 Sekunden, man solle sich beeilen. Wer da ein gutes Foto hinbringt und sich dazu noch würdevoll aus dem bärchenbefüllten Becher hievt: Respekt. Für jeden, dessen Nerven nicht aus Stahl, sondern eher aus Plüsch gemacht sind: pures Verständnis.

In diesem Moment der Social-Media-Geschichte entstehen Trainingshallen und Stadien für den Selfie-Sport.
Foto: Wondr

Wer kommt hierher? Verspannte Eltern mit ihren Kindern, die 98 Euro für vier Personen und 90 Minuten nicht schmerzen? Ja, auch. Vermarktet wird das Ganze an jene Zielgruppe, die man "the Girls, the Gays, the Theys" nennt – also an eigentlich alle außer den Heteromann. Die werden als Väter und Instagram-Husbands mitgeschleppt. "Unsere Besucher sind zu 80 Prozent weiblich", sagt auch Adélia Nerys, Wondr-Managerin.

Komplett jugendfrei

Die Website und die Location weisen einen hohen Rosa-, Regenbogen- und Glitzeranteil auf. Die Ästhetik ist fast immer kitschig, stark an jene der italienischen Mega-Influencerin Chiara Ferragni angelehnt. Auch das Logo des Wondr mit dem O als Auge wirkt sehr, ähm, von Chiara Ferragnis Markenlogo mit dem Auge, sagen wir, "inspiriert". Doch während Influencerinnen wie Ferragni auch mal gewagte Outfits zeigen und sich sexy präsentieren, ist das Wondr komplett jugendfrei. Eine Bubblegum-Blase. Denn adressiert ist das Ganze zwar an Influencerinnen, aber es kommen vor allem Kinder hierher, die Influencerinnen cool finden.

Auf die Teddys folgen die Hörer. Hunderte rosa Telefonhörer baumeln im nächsten Raum an ihrer Strippe von der Decke, an der Wand sind ein Dutzend Münzsprecher montiert. Sie sind Zeugen einer Epoche, die die meisten Besucher nicht miterlebt haben. Und so sind die einen mit den Mobiltelefonen beschäftigt, die anderen mit den nicht so mobilen Telefonen. Man hört das Klackern der Wählscheibe. Gemessen daran, wie schrill und kreischig die Räume gestaltet sind, ist es erstaunlich leise im Wondr. Zwei asiatische Mädchen arbeiten effizient und geräuschlos; die eine fotografiert, die andere modelt. Drei Posen, drei Gesichtsausdrücke, schnell weiter.

Van Gogh hat’s auch getan

Im Van-Gogh-Museum, nicht weit vom Wondr entfernt, liest man auf einer Tafel, dass der Maler Vincent van Gogh in Paris in nur zwei Jahren gut 28 Selbstporträts gemalt hat. 28 Selfies! Verhöhnt wurde er dafür nicht, in der Kunstgeschichte spricht man anerkennend von seinem "Selbststudium". Im Wondr arbeiten die Besucher mit GIFs, Boomerangs, Videos in Zeitlupe oder rückwärts, mit Filtern und Effekten. Videos werden geschnitten, Bildunterschriften ersonnen und Choreografien einstudiert. Für ein lustiges Boomerang-Video muss der Sprung ins Bällebad genau vom Absprung bis zur Landung aufgenommen werden, damit es so aussieht, als würde man wie von Zauberhand wieder heraustauchen. Das Selbststudium heute erfordert mehr technische Raffinesse als seinerzeit: Da musste man nur einen Tierhaarpinsel in einen Farbklecks tunken.

Die Instagram-Museen, die überall (trotz Corona) aus dem Boden schießen, sind inzwischen mehr als Bühnenbilder.
Foto: Wondr

Ein paar Räume weiter. Neben mir schaukelt ein bärtiger Mann mit umgedrehtem Käppi und Skinny Jeans. Hier fühlt sich das Wondr tatsächlich wie ein Erwachsenen-Spielplatz an, und, ja, doch, das macht Spaß. Der Schaukelraum ist eine jener Abteilungen, in denen man mehr erleben kann, als mit leblosen Objekten zu posen. Seine beiden Freunde fotografieren ihn. Die drei Männer in Sweatshirts und Sneakern lachen mehr als die Kinder. "Wir waren vorhin in einem Coffeeshop und dachten, es wäre lustig, bekifft durch die verrückten, bunten Räume zu laufen." Die drei Freunde heißen Mattia, Pietro und Matteo und sind Touristen Ende zwanzig aus Italien.

Mehr als Bühnenbilder

Die drei Italiener schießen ein Foto zu dritt. Kein Problem, denn in vielen Räumen gibt es ein raffiniertes Selbstauslösersystem. Man scannt den QR-Code vom Eintrittsticket an einer Station, spurtet in seine Position und wartet, bis der Countdown der Kamera heruntergezählt ist. Die Fotos werden dann sofort an die hinterlegte E-Mail-Adresse gemailt. Es gibt außerdem Selbstauslöser, die GIFs produzieren, solche, die Fotoserien hintereinander fotografieren, und geduldige Assistenten, die behilflich sind.

Die Instagram-Museen, die überall (trotz Corona) aus dem Boden schießen, sind inzwischen mehr als Bühnenbilder. Im Cali Dreams in Düsseldorf sind sogar "Musikvideos, Produkt- oder Firmenshootings" möglich, im Supercandy in Köln sind dem Equipment laut Website keine Grenzen gesetzt, es sei denn, man wolle "Schienen für einen Dolly" legen, das müsse man dann doch "vorher wissen". Dort gibt es auch eine "Beauty Station" sowie Umkleidekabinen. In der Wow Gallery in Berlin kann man sogar einen "Fotografen und Make-up-Artist" dazubuchen. Seit in New York City 2016 das Museum of Ice Cream eröffnete, das als das erste Selfie-Museum gilt, haben sich die Locations weiterentwickelt. Geblieben ist nur die typische, überzuckerte Ästhetik. Viele Selfie-Museen existieren nur kurze Zeit, die permanenten wie das Wondr wechseln alle paar Monate die Dekorationen.

Im Wondr arbeiten die Besucher mit GIFs, Boomerangs, Videos in Zeitlupe oder rückwärts, mit Filtern und Effekten.

Nach dem Hüpfen, ein paar Runden im Karussell, akrobatischen Leistungen im Spiegelkabinett, Schaukeln und Karaoke wären Snacks und etwas zu trinken nicht schlecht. Lachen allein verbrennt ja schon 50 Kalorien. Aber vor der Stärkung stehen die Wattebauschwolken. Durch die tänzelt eine Frau, deren wehender Mantel mit Trompetenärmeln fotogener ist als die meisten Räume. Gina Petula, 48, hat sich morgens das Muschelstirnband aufgesetzt und ist von Zandvoort nach Amsterdam gefahren, um einen Familientag mit ihrer Schwägerin, ihrer Nichte und ihrem Neffen zu verbringen. Sie arbeitet in einer Beachbude an der niederländischen Küste, bietet Tarotkartenlesen an (auch online) und einen Workshop zum Thema "inneres Kind".

"Wir sind schon zum zweiten Mal hier, beim letzten Mal hat es uns so gut gefallen. Es macht einfach Spaß, sich mal wieder wie ein Kind auszutoben", sagt sie. Im nächsten Raum wirbelt es Konfetti aus einer Düse, und es wird ein ruckeliges GIF von den installierten Kameras gefilmt. Ginas Neffe Noah bringt seine Schwester zum Lachen, die atmet Konfetti ein, schluckt welches, japst nach Luft, Konfetti muss aus dem Mund gefummelt werden, Tränen fließen.

Latente Frauenfeindlichkeit?

Sind Orte wie das Wondr nun eine Manifestierung einer abnormal egofixierten Generation? Einer Generation, die nichts als das eigene Aussehen im Sinn hat, ein Ort oberflächlicher Selbstbespiegelung von – in der öffentlichen Wahrnehmung – Like-geilen Mädchen, die ihren Selbstwert nur aus der Bestätigung durch Views und Follower ziehen? Oder bündelt sich in dieser Annahme übertriebener Kulturpessimismus mit einer Prise latenter Frauenfeindlichkeit? Im Wondr kann man beobachten, dass es den Besuchern weniger darum geht, makellose Schönheit zu inszenieren, als kreativ zu werden.

Dass gigantische Fabrikhallen wie das Wondr im Norden Amsterdams dekoriert werden und Firmen abkassieren, weil sie künstliche Kulissen anbieten, scheint nur auf den ersten Blick grotesk, weil die Professionalisierung von Social Media so rasant voranschreitet.

Ein Teamsport

Beim Fußball hat es vom ersten Kick auf dem Feld über den Bau des ersten Stadions bis hin zum ersten Fußballprofi und zum ersten Fußballmillionär rund hundert Jahre gedauert. Die Entwicklung bis hin zum weltweiten Milliardengeschäft verlief so gemächlich, dass man sich gesamtgesellschaftlich über mehrere Generationen adaptieren konnte. Vom ersten freizeitmäßigen Selfie-Posting auf Social Media zu den ersten Influencer-Millionären hat es nicht einmal zehn Jahre gedauert. Genau wie Vereine, die mit ihren Spitzenspielern mehr Geld über Trikotverkäufe als über Spiele verdienen, bekommen Profi-Influencer mit ihrem Markenimperium inzwischen mehr Geld als mit den Fotos selbst. Jetzt, in diesem Moment der Social-Media-Geschichte, entstehen also Trainingshallen und Stadien für den Selfie-Sport, der – das wird häufig vergessen – ein Teamsport ist. Niemand im Wondr ist alleine gekommen.

Und, ja, es macht Spaß.
Foto: Oda Schaefer

Geht die Entwicklung so schnell weiter, dürfte man sich nicht wundern, wenn es bald analog zu Fußballinternaten auch Social-Media-Akademien geben wird, wo Fotografie, Komposition, Modeln, Tanzen, Content-Creation, User-Management, Marketing und Buchhaltung gelehrt wird.

Handys an!

Neben mir zieht Gina ihre Schuhe aus, um in ein rosa Bassin zu treten, aus dem es nach Süßigkeiten duftet und in dem man in Plastik-Marshmallows baden kann. Gina erzählt: "Beim letzten Mal bin ich ins Bällebad gesprungen, und mir ist mein Handy aus der Hosentasche gerutscht. Leider war es lautlos gestellt. Wir mussten ewig tauchen, bis wir es wiedergefunden hatten." Seitdem wird man am Eingang des Wondr darauf hingewiesen, sein Handy, anders als im Kino, auf keinen Fall lautlos zu stellen.

Im Café räumen Mitarbeiterinnen die vergessenen Ladekabel weg, kehren das Konfetti zusammen. Selbst auf den Kloschüsseln liegt goldener Flimmer. Der künstliche Marshmallow-Duft weicht gemächlich dem von Reinigungsspray. Die Teddybären müssen jetzt duschen. (Nora Reinhardt, 12.3.2022)

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