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Auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in der Hauptstadt Kiew, fanden zwischen November 2013 und Februar 2014 proeuropäische Demonstrationen statt. Heute beherrscht auf demselben Platz der Krieg gegen Russland die Szenerie.

Foto: Picturedesk.com / Tass / Nikitin Maxim

Der 24. Februar 2022, der Tag der russischen Großinvasion, hat die Ukraine gründlich verändert. Viele haben im Westen damit gerechnet, dass die ukrainische Armee schnell unterliegt und dass sich Wladimir Putin zumindest militärisch durchsetzen kann.

Doch so einfach läuft der russische Angriff nicht. Obwohl die Russen gerade im Süden einige militärische Erfolge erzielen konnten, obwohl in einigen wichtigen Großstädten wie Charkiw oder Mariupol die humanitäre Lage dramatisch ist, ist Russland vom Erreichen seiner Ziele weit entfernt.

Zum einen hat sich Moskau offensichtlich militärisch verschätzt. Man hat offenkundig aber auch nicht damit gerechnet, dass die Reaktion der ukrainischen Gesellschaft auf diesen Angriff derart eindeutig ausfallen würde – was auf fehlende Ukraine-Expertise im Kreml hindeutet. Denn die ukrainische Gesellschaft hat bereits 2014, eigentlich weniger durch die Maidan-Revolution als aufgrund der russischen Annexion der Krim und des Krieges im Donbass, einen Wandel erlebt.

Komplexe Gesellschaft

Interne Differenzen in dieser extrem komplizierten Gesellschaft blieben, doch selbst tief im mehrheitlich russischsprachigen Osten des Landes gab es plötzlich nur noch sehr wenige Menschen, die wirklich prorussisch eingestellt waren. Selbst als viele immer noch die russlandfreundliche "Oppositionsplattform" wählten, die bei der Parlamentswahl 2019 den zweiten Platz belegte, hatte das überwiegend mit einem Mangel an Alternativen zu tun – weniger mit Putin-Sympathien.

Durch die russische Invasion erlebt die Ukraine nun eine Einigkeit, die es nie zuvor gegeben hat. Selbst die eher kleine russlandfreundliche Minderheit hat ihre Meinung komplett verändert. Sogar der politische Rat der Oppositionsplattform, die eigentlich vom engen Putin-Freund und Unternehmer Wiktor Medwedtschuk aufgebaut wurde, hat öffentlich die Bemühungen der Abgeordneten unterstützt, die in die sogenannten territorialen Verteidigungseinheiten eintreten oder diesen indirekt helfen.

DER STANDARD

Auch die wichtigsten prorussischen Journalisten und Blogger stellen sich gegen Putin. Auf einmal spielt etwa die ewige Sprachfrage zwischen ukrainisch- und russischsprachigen Ukrainern keine Rolle mehr. Obwohl der patriotische Aufschwung, der auf die ersten Schocktage des Krieges folgte, etwas nachgelassen hat: Diese Grundstimmung bleibt.

Historischer Bruch

Natürlich werden die Differenzen nach dem Krieg irgendwann zurückkehren. Ebenfalls bleiben wird der historische Bruch der Ukraine mit Russland, der 2014 begonnen und sich im Februar 2022 endgültig vollzogen hat. Denn was die Ukrainer jetzt erleben, ist ihr eigener Vaterländischer Krieg – ein Begriff, der in Russland eigentlich im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg benutzt wird. Die Wunden zwischen den beiden Ländern, die eine äußerst komplizierte, aber doch auch gemeinsame Geschichte teilen, werden so rasch nicht verheilen.

Trafen aber die in Westeuropa auch heute noch verbreiteten Stereotype über die große Spaltung der Ukraine jemals zu?

Es ist kompliziert.

Als die Ukraine Ende 2004 im Rahmen der Orangen Revolution zum ersten Mal große internationale Schlagzeilen machte, war die 1991 unabhängig gewordene Republik tatsächlich auf dem besten Weg in eine gesellschaftliche Spaltung. Zwangsläufig war diese freilich nicht.

Überraschende Konstellationen

Zwar gab es tiefe, in der Geschichte verwurzelte, kulturelle Unterschiede zwischen dem historisch zum Teil österreichisch geprägten und ukrainischsprachigen Lwiw (Lemberg) im Westen und dem russischsprachigen, rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernten Charkiw. Politisch relevant wurden diese Unterschiede allerdings erst während der Präsidentschaftswahl 2004, als der Wahlkampf des vermeintlich prowestlichen Kandidaten Wiktor Juschtschenko und jener des von Russland unterstützten Kandidaten Wiktor Janukowytsch darauf aufbauten.

In den Jahren danach gab es in der ukrainischen Politik aber auch oft recht überraschende Konstellationen. So hat Janukowytsch zwischenzeitlich die Regierung während der Präsidentschaft von Juschtschenko geleitet – und es war ebenfalls jener Janukowytsch, in dessen Amtszeit das zukünftige Staatsoberhaupt Petro Poroschenko, der eine national orientierte Politik führte, zuvor als Minister arbeitete.

Janukowytsch, der heute von Russland aus den jetzigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur Kapitulation gegenüber Moskau auffordert, hat jahrelang die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU angepeilt und mehrere damit verbundene Reformen eingeleitet. Dass es Ende 2013 zur Unterzeichnung des Abkommens im ersten Schritt nicht kam, war bei aller Kritik an Janukowytsch mehr dem Druck aus dem Kreml als seinem eigenen Willen geschuldet.

Einende Ereignisse

Wie in der Geschichte schon häufig passiert, waren es auch in der Ukraine Großereignisse, die diese Spaltung überwinden konnten.

Dabei spielte vor allem die Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine und in Polen eine Schlüsselrolle. Damals herrschte sowohl in Lwiw als auch in Charkiw die gastfreundlichste Stimmung. Die ukrainische Nationalelf schaffte es zwar nicht durch die Gruppenphase, aber als der Nationalheld Andrij Schewtschenko im Auftaktspiel gegen Schweden sein Team mit zwei Toren zum Sieg führte, feierte man in Sewastopol auf der Krim genauso wie im westukrainischen Ternopil.

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Sport als Anlass, sich als Nation zu fühlen: Europameisterschaft 2012.
Foto: Picturedesk.com / epa / Andrew Kravchenko

Eine ähnliche Stimmung herrschte Mitte November, als die Ukraine in der K.-o.-Phase der WM-Qualifikation überraschend souverän Frankreich im Kiewer Olympijskyj-Stadion schlug. Das Rückspiel verlief allerdings weniger erfolgreich.

Eine Woche dauerte es damals noch bis zur Maidan-Revolution, mit der große Veränderungsprozesse in der ukrainischen Gesellschaft begannen. Nach 2014 war diese gespalten, aber nicht so, wie viele im Westen meinen. So war etwa die außenpolitische Ausrichtung der Ukraine kein Debattenthema mehr.

Vielmehr existierte nun eine Teilung zwischen der national orientierten, sehr patriotischen Zivilgesellschaft – und dem Rest der Bevölkerung, der bei diesen Themen eher zurückhaltend war. Dieser Teil hat auch den russischsprachigen, jüdischstämmigen A-Promi Wolodymyr Selenskyj, der als Antithese seines Vorgängers Poroschenko und seines Wahlslogans "Armee! Sprache! Glaube!" galt, mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt.

Bestes Beispiel Selenskyj

Bereits seit dem ersten Truppenaufmarsch der russischen Armee an der ukrainischen Grenze im Frühjahr 2021 äußert sich Präsident Selenskyj als einer der größten Befürworter des Nato-Beitritts seines Landes, obwohl er dieses Thema zunächst noch weitgehend ignoriert hatte. Heute gilt er als Nationalheld sogar für diejenigen, die ihm während seines Wahlkampfs unterstellten, er würde in seiner Unerfahrenheit das Land im Ernstfall an Russland abtreten.

So ist Präsident Selenskyj selbst eigentlich das beste Beispiel für die Prozesse, die in der ukrainischen Gesellschaft in den vergangenen Jahren stattfanden: Die Ukraine mag in der Vergangenheit ein gespaltenes Land gewesen sein – Russland hat jedoch alles dafür getan, dass das nun nicht mehr der Fall ist. (Denis Trubetskoy aus der Oblast Schytomyr, 12.3.2022)