Rettungskräfte suchen in Charkiw in einem bombardierten zivilen Gebäude nach Überlebenden.

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Der russische Überfall auf die gesamte Ukraine, den die Führung in Moskau ihren Bürgerinnen und Bürgern so beharrlich wie euphemistisch als "militärische Spezialoperation" allein gegen die Regierung in Kiew verkauft, verläuft auch zu Beginn der dritten Kriegswoche nicht nach Wunsch und Befehl des Kreml. Wohl auch aus diesem Grund intensivierten die russischen Streitkräfte ihre Angriffe weiter – und dabei kommen immer mehr Menschen aus der Zivilbevölkerung zu Schaden.

Die Invasoren haben nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Olexij Resnikow bisher mehr ukrainische Zivilisten als Soldaten getötet: "Ich möchte, dass dies nicht nur in Kiew, sondern auf der ganzen Welt gehört wird." Tragisches Beispiel, wie um diesen Vorwurf zu untermauern: Bei russischem Artilleriebeschuss der Millionenstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine wurde eine psychiatrische Klinik getroffen. Opfer wurden dabei nicht gemeldet. Insgesamt richtete der Krieg in der Ukraine bereits jetzt Schäden von umgerechnet 107 Milliarden Euro an, wie die ukrainische Regierung am Freitag vorrechnete.

Möglicher Luftangriff auf Belarus

Wenig später meldete Kiew zudem, dass ein russischer Kampfjet von ukrainischem Luftraum aus eine Grenzsiedlung im eigentlich mit Moskau verbündeten Belarus beschossen habe, um – nach ukrainischer Lesart – Minsk einen Vorwand zu liefern, in den Krieg gegen die Ukraine einzugreifen. Über mögliche Schäden oder Opfer gab es keine Angaben. Prorussische Separatisten haben am Freitag im Osten der Ukraine nach Militärangaben aus Moskau die Stadt Wolnowacha unter ihre Kontrolle gebracht, die zuvor eingekesselt worden war.

Russlands Präsident Wladimir Putin wirbt derweil um Söldner für seinen Angriffskrieg, wie er am Freitag bei einer im Fernsehen übertragenen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats in Moskau erklärte. Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte, dass sich allein im Nahen Osten bereits 16.000 Freiwillige gemeldet hätten, die den Kreml im Kampf gegen die ukrainische Armee unterstützen wollten.

Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat in der Ukraine zahlreiche russische Angriffe auf zivile Ziele dokumentiert, einige davon mit der geächteten Streumunition. Dabei könne es sich um Kriegsverbrechen handeln, sagte eine Sprecherin am Freitag. Der UN-Sicherheitsrat hat sich nach dem Willen Russlands am Freitag in New York mit angeblich von den USA in der Ukraine hergestellten Biowaffen beschäftigt. Die US-Regierung bezeichnete Russlands Behauptungen als einen "Haufen Lügen".

Wie dieser Krieg enden könnten, bleibt noch offen. In vier Szenarien haben wir aber mögliche Wege skizziert, wie der Konflikt weitergehen könnte.

  • Szenario 1 – Russland besetzt Ukraine und installiert Regierung

    Auch wenn die russischen Streitkräfte offenbar auf mehr ukrainischen Widerstand treffen, als sie erwartet haben, ist ein russischer Sieg für viele Fachleute weiterhin wahrscheinlich – aufgrund der militärischen Überlegenheit der Russen. Wurde das Land mit Gewalt unterworfen, rechnen Beobachter damit, dass der Kreml eine Marionettenregierung in Kiew einsetzt – etwa mit Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch an der Spitze. Er hat erst diese Woche den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur Kapitulation aufgefordert. Er wäre auch der logische "Held" der Kreml-Propaganda. Denn laut dieser wurde Janukowytsch in der Maidan-Revolution nicht vom Volk, sondern durch einen westlichen Coup gestürzt
    Das wäre aber ein Pyrrhussieg für Russland, sind sich die Fachleute einig. Laut den Strategen des Scowcroft Center for Strategy and Security würde ein ukrainischer Aufstand "von Russland einen signifikanten und langanhaltenden menschlichen und finanziellen Tribut" fordern. Denn Moskau könnte gezwungen sein, noch mehr Armeeangehörige und Gelder einzusetzen als ursprünglich geplant, um den Widerstand niederzuschlagen. Gleichzeitig gehen die Fachleute davon aus, dass die Nato die ukrainischen Kämpfer mit Waffen und anderen Materialien unterstützen würde.


  • Szenario 2 – Kiew fällt, und Selenskyj flieht nach Lwiw

    Der riesige Konvoi russischer Militärfahrzeuge, der sich langsam, aber stetig Richtung Kiew bewegt hat, scheint sich zu zerstreuen. Wie auf Satellitenbildern zu sehen ist, bewegen sich die bewaffneten Einheiten in und bei den umliegenden Ortschaften im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt. Laut britischen Geheimdienstinformationen sollen sich die Truppen in Stellung bringen, um einen neuen Vorstoß zu starten – ein Angriff auf Kiew sei wahrscheinlich. In einem Interview mit der BBC sagte der britische Militärexperte Jack Walting vom Thinktank Royal United Services Institute, dass die bewaffneten Einheiten offenbar versuchen, die Stadt über Westen bis zum Süden einzuschließen. Für ihn ist eine Belagerung der Hauptstadt wahrscheinlicher als ein direkter Angriff.

    Sollte Kiew fallen, könnte die ukrainische Regierung mit Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Lwiw (Lemberg) in der Westukraine gebracht werden, um dort quasi aus dem Exil heraus zu agieren. Damit könnte Selenskyj weiter die Symbolfigur bleiben, die das Land nicht verlassen hat. Dabei könnte die Stadt von den Nato-Mitgliedern aus der Luft versorgt werden, um die politische Führung gegen mögliche russische Aggression zu stärken. Russland könnte die Kontrolle über den Osten der Ukraine behalten. Bereits im Juli hatte Putin in seinem heftig kritisierten Ukraine-Essay eine Teilung des Landes zwischen russisch und ukrainisch sprechenden Menschen nahegelegt.


  • Szenario 3 – Deal mit Russland, Ukraine verliert Donbass und Krim

    Je länger der Krieg andauert und keine Seite tatsächliche Erfolge verbuchen kann, desto näher könnte doch noch eine diplomatische Lösung rücken. Israelische Diplomaten, die zwischen der Ukraine und Russland vermitteln, haben laut Axios diese Woche nahegelegt, dass sich die russische Seite doch noch darauf einlassen könnte, "nur" die Region des Donbass zu demilitarisieren. Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Freitag angekündigt, die von Moskau anerkannten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk mit von der Ukraine eroberten Waffen zu versorgen.

    Auch der stellvertretende Stabschef des ukrainischen Präsidenten, Ihor Schowkwa, hat diese Woche angedeutet, dass Kiew für eine "diplomatische Lösung bereit" sei. Russland müsste die Truppen abziehen, aber man könnte über den Status der Krim sowie der Donbass-Regionen reden. Auch eine Neutralität der Ukraine – mit Sicherheitsgarantien westlicher Staaten und vor allem Russlands – als Alternative zur Nato-Mitgliedschaft steht im Raum. Die müssten aber anders aussehen als jene, die die Ukraine 1994 im Budapester Memorandum erhalten hat – und die wenig Schutz geboten haben.

    Selbst Putin sprach am Freitag von positiven Entwicklungen bei Gesprächen – ging aber nicht auf Details ein.


  • Szenario 4 – Das "Wunder" geschieht: Russland zieht vollständig ab

    Die US-Denkfabrik Atlantic Council nennt dieses Szenario bereits "das Wunder am Dnjepr" und zeigt damit, für wie wahrscheinlich (oder nicht) ihre Fachleute diesen Kriegsausgang halten. Doch gänzlich vom Tisch ist das Szenario nicht. Nämlich dass die ukrainische Armee weiterhin und in noch größerem Ausmaß die russischen Streitkräfte mit ihrer Moral und Kampfeslust überrascht und stetig zurückdrängt. Russlands Präsident Wladimir Putin könnte durch die zahlreichen Verluste in den Reihen seiner Streitkräfte und unter dem massiven Druck der internationalen Sanktionen einknicken und vollständig das Feld räumen. Mithilfe der Unterstützungen der Nato, die der Ukraine Waffen, Raketenabwehrsysteme und auch Drohnen liefern könnte, wäre ein Sieg laut Beobachtern noch immer möglich.

    Doch selbst wenn Putin die Truppen zurückzieht, würde weiterhin von Moskau Gefahr für die Ukraine und womöglich auch andere Ex-Sowjetrepubliken ausgehen. Denn nach einer Kapitulation, die keine Erfolge, sondern nur Tote gebracht hat, würde Russland eine ungewisse Zukunft bevorstehen und das politische System vor einer entscheidenden Wende stehen. "Ob das Land einen noch autoritäreren Weg unter Putin einschlägt oder sich vollkommen von ihm abwendet, wird größtenteils bestimmen, wie sich Russland in Bezug auf den Rest der Welt verhalten wird", zitiert CNBC News die Experten des Atlantic Council. (Bianca Blei, Gianluca Wallisch, 11.3.2022)