Tschernihiw, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, in der ich zur Schule gegangen bin und studiert habe, die Stadt, in der ich meine Sportkarriere begann und in die ich 2004 von den Olympischen Spielen mit einer Goldmedaille zurückgekehrt bin, Tschernihiw wird jetzt mit Bomben und Raketen beschossen.
Mein Vater, viele andere Verwandte und Freunde verstecken sich in Luftschutzkellern. In Bunkern werden Babys geboren. Wo vor kurzem noch Kindergärten und Schulen standen, sind jetzt Explosionskrater. Es ist unerträglich schmerzhaft, die Stadt in Feuer und Rauch zu sehen. Erst im Jänner war ich zum letzten Mal dort, meine Erinnerungen sind noch absolut frisch, die Erinnerungen an eine wunderschöne Stadt.
Mein Großvater war ein sowjetischer Offizier mit belarussischer Herkunft. Seine Dienststelle war ganz im Osten der UdSSR. Nach seiner Pensionierung zog er sich in die Ukraine nach Tschernihiw zurück und nahm seine ganze Familie mit. So bin ich im Alter von drei Jahren in Tschernigow gelandet, wie die Stadt damals, vor dem Zerfall der UdSSR, auf Russisch hieß. Als Kind hab ich oft gesagt: "Meine Mutter ist Russin, mein Vater ist Belarusse, und ich bin Ukrainerin." Den letzten Teil kann ich jetzt nicht oft genug betonen: Ich bin Ukrainerin!
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Was ich mir wünsche
Ich habe noch nie so viel gebetet, noch nie hatte ich beim Einschlafen so viel Angst wie in den vergangenen Tagen. Ich habe Angst aufzuwachen und dann die neuesten Nachrichten zu lesen, was wieder in der Nacht passiert ist. Nachts werden die Städte besonders heftig bombardiert, fast permanent heulen die Sirenen. Mein Trainer Ihor Cheredinov wohnt jetzt in meiner Wohnung in Kyiv, er hat es nicht mehr heim nach Tschernihiw geschafft. Seine Frau Svetlana ist da jetzt allein, sie schläft auf dem Boden im Vorzimmer, weil dort die Wände stabiler sind. Ich hoffe, dass dieser Albtraum bald endet. Ich hoffe, dass die Menschen in ihre Häuser zurückkehren und dass wir die Städte wieder aufbauen können.
Seit Kriegsbeginn bin ich völlig apathisch, wie gelähmt. Ich kann gar nichts tun, trainieren schon gar nicht. Ich bin ständig in Kontakt mit meinen Freunden und meiner Familie. Ich spüre, wie nervös sie sind, aber in den Apotheken gibt es keine Beruhigungs- und Schmerzmittel mehr. Es bricht mir das Herz. Im ukrainischen Fernsehen werden ständig Atem- und andere Beruhigungstechniken erklärt, aber vor allem die Kinder sind traumatisiert und haben Angst, aus den Kellern nach draußen zu gehen.
Ich wünsche mir Frieden. Die Ukraine sollte Mitglied der Nato und der Europäischen Union sein. Jetzt sieht die ganze Welt, wie mutig die Ukrainerinnen und Ukrainer sind. Wir verdienen es dazuzugehören. Wir haben so viel ertragen auf dem Weg zu Demokratie und Freiheit, und doch müssen wir jetzt diesen erbitterten Kampf um Unabhängigkeit führen, um das Recht, unsere Zukunft selbst zu bestimmen. Dabei sind wir sehr friedliche Menschen, das waren wir immer.
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Ich hoffe, die Sanktionen bewirken etwas. Vielleicht, dass die russische Führung mehr an die eigene Bevölkerung denkt und nicht mehr an angebliche Rettungsaktionen für angeblich unterdrückte russische Minderheiten in anderen Ländern. Viele meiner Freunde und Verwandten wollen nicht weg aus der Ukraine. Das ist ihr Zuhause, dort sehen sie ihre Zukunft.
Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Tokio hab ich die ukrainische Fahne getragen. Das ist keine acht Monate her. Beim World Cup vor kurzem in Kairo war ein Antreten für mich undenkbar. Die Ukraine hatte keine Mannschaft dort. Viele Männer aus unserem Team haben ihre Sportwaffe gegen eine militärische Waffe getauscht, um ihre Familien und ihr Land zu verteidigen. Schützen und Schützinnen aus anderen Ländern haben sich in Kairo hinter einer ukrainischen Fahne versammelt, auf der groß stand: "Shooting for Sport, not for War! Peace for Ukraine". Ich war zutiefst berührt. Man darf Waffen nicht gleichsetzen. Meine Waffe ist die Luftpistole, die fast nur im Sport zum Einsatz kommt und von der praktisch kein Risiko ausgeht.
Was mich aufrecht hält
Nur von den russischen Schützen gab es bis dato keinen Kommentar. Dabei sind wir Schützen eine große Familie. Auch der Präsident und der Generalsekretär des internationalen Schießsportverbands ISSF, Wladimir Lissin und Alexander Ratner, sind Russen. Es widerstrebt mir, ihren Rücktritt zu verlangen, ich verspüre auch keine Wut auf sie persönlich. Aber ich würde mir wünschen, dass sie zur russischen Invasion in der Ukraine eine Stellungnahme abgeben.
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Es gab Tage, da hab ich überlegt, in die Ukraine zu fahren und dort zu helfen. Aber ich weiß, dass ich auch hier meinen Beitrag leisten kann. Viele im Ausland lebende Ukrainer spenden Geld und helfen den Flüchtlingen. Auch die österreichischen Behörden setzen sich ein. In Linz leben viele Ukrainer, und es hat eine große Veranstaltung für Frieden in der Ukraine gegeben. Zu der Demo sind auch viele Russen gekommen, die nicht wollen, dass die angebliche Supermacht Russland so viele junge Männer in den Krieg und in den Tod schickt. Da hab ich eine große Einigkeit gespürt, die mir viel Kraft gegeben hat.
Ansonsten ist das Einzige, das mich aufrecht hält, meine Familie. Meine Mutter war bei uns zu Besuch, als der Krieg ausgebrochen ist, sie konnte nicht mehr zurück und ist in Linz geblieben. Und wenn ich meine kleine Tochter beim Schlafen oder beim Spielen beobachte, wird mir klar, welchen Wert es hat, in Frieden leben zu können. (ZUGEHÖRT UND AUFGEZEICHNET HAT: Fritz Neumann, 13.3.2022)