Die Europäische Union wird oft als das größte Aussöhnungs- und Friedensprojekt der Geschichte beschrieben – zu Recht. Der Kontinent war über Jahrhunderte von Krieg geprägt – bis 1945. Was seit der "Stunde null" aus einem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kontinent geworden ist, war bisher überzeugend.

Die 27 Mitgliedsstaaten haben durch offene Kooperation ein Niveau an sozialer und ökologischer Wirtschaft, an humanitärer und demokratischer Politik erreicht, um das der Rest der Welt uns beneidet. Nicht umsonst stellt sich ein knappes Dutzend Länder um den EU-Beitritt an. Und es hat gute Gründe, dass Millionen in die EU einwandern wollen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am EU-Gipfel in Versailles.
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Die vielen internen Krisen, Rückschritte wie der Brexit oder nationalistische Ausritte und Demokratieverstöße wie von Ungarn oder Polen, trübten zuletzt zwar dieses Bild – aber im Großen und Ganzen änderte das nichts am Befund: Die meisten Menschen konnten sich gar nicht mehr vorstellen, dass in ihrem Leben jemals wieder Krieg drohen könnte.

Mit diesem Grundgefühl ist es seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vorbei. Die Wucht dieses Krieges stellt plötzlich alles infrage, was uns sicher schien. Es ist eine Zeitenwende, wenn binnen kürzester Zeit 2,5 Millionen Menschen in den EU-Raum flüchten. Das spüren nun immer mehr Menschen.

Der Ernst der Lage, die Angst, dass der Krieg in die EU überschwappt, war auch beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Versailles deutlich zu spüren – ausgerechnet an dem Ort, an dem nach dem Ersten Weltkrieg der Friedensvertrag verkündet wurde, dem die noch größere Katastrophe folgte. So ist es kein Wunder, wenn die Regierungschefs bis weit in die Nacht alles unternahmen, um Einigkeit gegen den russischen Aggressor zu erzielen, ihre unterschiedlichen Interessenlagen wegdrückten.

Trotz des demonstrativen Zusammenstehens in der Not zeigte sich sehr klar: Die EU – unsere Gemeinschaft – ist zwar stark im Reden, im Formulieren von Drohungen, der gemeinsame Wille reicht auch für wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen: Aber den Umgang mit Krieg, die militärische Verteidigung oder auch nur die Drohung damit, das haben die Europäer bisher vernachlässigt. Dazu kommt die Kleinstaaterei.

Wir sind nur auf Frieden vorbereitet. Deshalb sind die Regierungen der EU-27 jetzt ratlos, wie sie den russischen Präsidenten Wladimir Putin in seiner "Mission" aufhalten könnten.(Thomas Mayer, 11.3.2022)