Wir bilden die Debatte zum STANDARD-Interview ab: mit Gastkommentaren der Historiker Christoph Augustynowicz und Wolfgang Müller, des Übersetzers Werner Richter, Leserstimmen sowie einem Beitrag von Adriana und Franz Josef Czernin.

Wissenschaftliche Irreführung

Christoph Augustynowicz, Wolfgang Müller

In seinem STANDARD-Interview bezeichnet Alexander Nitzberg die Reaktion auf den nicht provozierten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, auf Angriffe gegen Wohnhäuser und Kindergärten, auf tausende Todesopfer, auf die Nukleardrohungen des Kreml als "vielfach hysterisch". Wir halten diese Wortwahl für schwer verfehlt und weisen sie auf das Schärfste zurück.

Wer über die aktuellen Kriegsgräuel nicht entsetzt ist, hat kein Herz oder keinen moralischen Kompass. Wer wie Nitzberg angesichts derartiger Ereignisse Fragen stellt wie: "Wenn Sie in einem Hochhaus sitzen und einen Granateneinschlag beobachten – woher wollen Sie wissen, von welcher Seite das Geschoß stammt?", verharmlost in zynischer Weise diese Ereignisse und relativiert die Verantwortlichkeit.

Wer wie Nitzberg unkritisch die blumigen Worte russischer Politiker über die Ukrainer zitiert, die von denselben Politikern gerade in einen blutigen Krieg gestürzt werden, betreibt wissentliche Irreführung.

Eindeutiger Aggressor

Unbeschadet der relativierenden Aussagen Nitzbergs ist die Leugnung der Existenz einer unabhängigen ukrainischen Nation durch Präsident Putin belegt. Ferner ist klar, dass ein Krieg Russlands gegen die Ukraine stattfindet, mit einem eindeutigen Aggressor – egal, wie viele "Spieler" sich laut Nitzbergs Andeutungen auf dem "Schachbrett" befinden. Es ist auch irrelevant, ob eventuell einzelne Häuser im Krieg irrtümlich von eigenen Waffen getroffen wurden. Ursächlich verantwortlich für alle Opfer und Zerstörungen ist der Aggressor.

Propagandistenrolle

Der Angriffskrieg Russlands soll nicht mit einem Boykott politisch unbelasteter Kulturschaffender vergolten werden. Wenn sich Kulturschaffende als Propagandisten für aggressive Akte Russlands betätigt haben, kann von ihnen aber durchaus erwartet werden, sich von früheren Aussagen zu distanzieren. Wenn sie dies nicht tun, droht ihnen hierzulande keine Verfolgung, sondern allenfalls die Lösung von ihren aus Steuern finanzierten oft millionenschweren Verträgen, wofür sie sich andernorts schadlos halten können.

Christoph Augustynowicz und Wolfgang Müller im Namen des Instituts für osteuropäische Geschichte der Universität Wien.

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Eine Frechheit, Herr Kollege!

Werner Richter

Das Interview, das mein Übersetzerkollege Alexander Nitzberg im STANDARD gegeben hat, möchte ich als Vertreter der literaturübersetzenden Zunft nicht einfach so stehen lassen.

Ich kenne Nitzberg nicht persönlich, als Übersetzer hat er zweifellos seine Verdienste, aber zum Krieg Russlands gegen die Ukraine hätte er wohl besser geschwiegen, statt absätzelang in seiner "aktiv gelebten Neutralität" herumzueiern und dafür ausgerechnet Sergej Lawrow zu zitieren (der das ukrainische Brudervolk "respektiert", eh). Die russische Botschaft hat übrigens auf Facebook herzlich applaudiert. Angesichts eines Aggressionskriegs, bei dem vor allem die eigene Bevölkerung mit hanebüchenen Argumenten in die Irre geführt wird, geht es einfach nicht an, diese so nebenbei zu übernehmen ("Entnazifizierung") und damit zu legitimieren.

Klare Frage

Nitzberg behauptet, bei uns Übersetzer:innen einen hysterischen oder gar "martialischen" Ton vernommen zu haben, und da wundere ich mich nun wirklich. Auf unserer internen Diskussionsliste, wo er mitliest beziehungsweise mitlesen kann, haben wir selbstverständlich über Wladimir Putins Krieg (und Möglichkeiten zum Helfen) debattiert, wobei da allerdings weitgehende Einigkeit über die Gut/Böse-Frage herrscht – die ja wohl selten so klar liegt wie in diesem Krieg.

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"Niemand will russische Literatur verbrennen."
Foto: Getty Images

Ebenso einig sind wir Übersetzer:innen auch in der Frage, dass die Ächtung der aktuellen russischen Politik nicht in einer Ablehnung "alles Russischen" münden darf. Gerade Intellektuelle und Kunstschaffende stellen sich üblicherweise nicht hinter, sondern gegen die Autokraten, die ihr Land regieren, und deshalb verdienen sie jede Unterstützung von außen. Dass man andererseits einen Akteur wie Valerij Gergiev, der Putin und seine Handlungen im Gegenteil stützt und verteidigt (auch schon 2014 in seinem offenen Brief pro Krim-Annexion), vom Dirigentenpult verstößt, muss den Subventionsgebern doch gestattet sein.

Das gesamte Interview trieft von einer behaupteten Ambivalenz. Daher ganz klar: Nein, niemand will russische Literatur verbrennen, aber wenn wir in dem Hochhaus sitzen würden, bestünde heute wohl keine Frage, woher die Granate kommt. Natürlich darf Nitzberg (in diesem Land!) seine Abwiegelei verbreiten, wo er ein Forum dafür findet, aber ausgerechnet die Literaturübersetzer:innen als Beleg für sein Putin-Verständnis an den Haaren herbeizuziehen ist eine Frechheit, Herr Kollege!

Werner Richter ist Vorsitzender der IG Übersetzerinnen Übersetzer.