"Die Volkswirtschaft misst bislang den Preis von allem und den Wert von gar nichts. Das muss sich ändern", sagt die Ökonomin Mariana Mazzucato im Gastkommentar. Sie tritt für eine Alternative zur "stark verzerrenden Kennzahl" BIP ein.

Pflege ist die Leben spendende Kraft, die Gesundheit und Wohlbefinden aufrechterhält und Gesellschaften und Umwelt verbindet. Doch alltägliche Formen der Pflege werden, obwohl sie unverzichtbar sind, systematisch unterbewertet. Die meisten Pflegeleistungen werden von Frauen erbracht, deren Beiträge zwar wie jüngst am Internationalen Frauentag gefeiert werden, dabei eigentlich jeden Tag gewürdigt werden sollten.

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Die Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig das Gesundheitswesen für unsere Gesellschaften ist.
Foto: Reuters / Clodagh Kilcoyne

Bloß Mittel zum Zweck

Die Covid-19-Krise hat unsere Pflegekapazitäten an ihre Grenzen gebracht und die grundlegende, aber nicht hinreichend gewürdigte Rolle, die sie in unserer Gesellschaft spielen, deutlich gemacht. Während wir nun die von der Pandemie angerichteten Schäden ermitteln, sollten wir den Moment nutzen, um zu überarbeiten, wie wir Dingen einen Wert zumessen, und damit auch, wie wir die Weltwirtschaft organisieren. Ziel dabei sollte sein, eine Wirtschaft zu schaffen, die Gesundheit und Wohlbefinden jedes einzelnen Menschen auf dem Planeten und auch die Gesundheit des Planeten selbst fördert. Derzeit haben wir das Gegenteil davon: ein System, das Gesundheit nur als Mittel zum Zweck wirtschaftlichen Wachstums wertschätzt.

Das (rein weibliche) Council on the Economics of Health for All der Weltgesundheitsorganisation wurde gegründet, um diesen Paradigmenwechsel anzuführen. Obwohl die Pandemie noch immer Menschenleben fordert und einen politischen Anstoß zur Umgestaltung wirtschaftlicher Steuerungsstrukturen bietet, schließt sich das Zeitfenster hierfür bereits. Wir laufen die große Gefahr, zum alten siloartigen Ansatz zurückzukehren, laut dem nur "formale" Wirtschaftssektoren wertschöpfend sind.

"Die pathologische Besessenheit mit dem BIP untergräbt, was wir am meisten schätzen: das Leben selbst."

Dieses alte System hält in perverser Weise an Kennzahlen wie dem BIP fest, einer keinerlei Unterschiede machenden Messgröße für den "Fortschritt". Die pathologische Besessenheit mit dem BIP untergräbt, was wir am meisten schätzen: das Leben selbst. Im Jahr 2020 stieg das globale BIP um 2,2 Billionen US-Dollar, weil die Regierungen ihre Militärausgaben erhöhten; zugleich hat die Welt noch immer nicht die lediglich 50 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, die erforderlich sind, um die Weltbevölkerung zu impfen.

Was wäre, wenn wir unsere Entscheidungen auf das gründen würden, was wir wirklich wertschätzen? Wir würden bei dem primären Ziel der Gesundheit für alle ansetzen und Wege ermitteln, wie wir das erreichen können.

Drei Grundsätze

Im politischen Leitfaden zur Wertschätzung der Gesundheit für alle des WHO Council schlagen wir drei Grundsätze vor, die diese Bemühungen leiten sollten. Der erste ist die Wertschätzung der planetaren Gesundheit durch Schutz der Integrität unverzichtbarer Gemeingüter wie Wasser und Luft und durch Respektieren der ökologischen Grenzen, von denen Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen letztlich abhängen. Der zweite Grundsatz ist die Wertschätzung der sozialen Grundlagen und Aktivitäten, die Verteilungsgerechtigkeit fördern. Dies bedeutet, für Vielfalt einzutreten und in soziale und physische Infrastruktur zu investieren, um Bedürftige zu unterstützen und Gemeinschaften in die Lage zu versetzen, zu florieren. Der dritte Grundsatz besteht darin, menschliche Gesundheit ernst zu nehmen, indem wir sicherstellen, dass jeder Mensch es körperlich und emotional gut haben kann, und indem wir jedem die Werkzeuge an die Hand geben, um ein menschenwürdiges und chancenreiches Leben in gesunden Gemeinwesen zu führen.

Alternative Messgrößen

Was wäre erforderlich, um eine Wirtschaft zu erschaffen, die diesen Zielen dient? Zunächst einmal müssen wir anerkennen, dass keine Messgröße all die vielfältigen Aspekte der Gesundheit für alle erfassen kann, insbesondere keine monolithische, stark verzerrende Kennzahl wie das BIP. Wir sollten Schritte in Richtung eines Mechanismus zur globalen Datensammlung und eines analytischen Rahmens unternehmen, die derart grob vereinfachende Kennzahlen aufgeben.

Zweitens müssen alternative Messgrößen ineinandergreifen – als Teil eines holistischen Ansatzes, der es ermöglicht, dass Informationen auf transparente Weise diskutiert und über vielfältige lokale Kontexte hinweg repliziert werden können. Wir müssen dabei das Rad nicht neu erfinden. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen bieten eine robuste Grundlage für die Entwicklung besserer Messgrößen und Kennzahlen. Ein weiteres vielversprechendes Modell ist das System der Doughnut Economics, das vom WHO-Council-Mitglied Kate Raworth entwickelt wurde und bei Kommunalverwaltungen weltweit von Amsterdam bis Sydney rasch an Einfluss gewinnt. Es ermutigt politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, den nachhaltigen Bereich zwischen Mangel (repräsentiert durch das Loch im Doughnut) und Überschuss (repräsentiert durch alles, was über den Rand des Doughnut hinausreicht) anzustreben.

Unberücksichtigte Leistungen

Jedes derartige System muss detaillierte neue Messgrößen zur Bewertung der Waren und Dienstleistungen umfassen, die für die Gesundheit für alle unverzichtbar sind. Die meisten davon bleiben gegenwärtig unberücksichtigt; das reicht vom Nahrungsanbau über das Kochen und Saubermachen bis zur Kinderbetreuung und anderen unbezahlten Haushalts- und Nachbarschaftspflichten, die überwiegend von Frauen ausgeführt werden. Wie WHO-Council-Mitglied Marilyn Waring seit langem argumentiert, können Zeitbudgetdaten dazu beitragen, diese unzureichend gewürdigten unbezahlten Tätigkeiten aufzuzeigen und ihren wahren Wert zu erfassen.

Den Wert der Dinge neu zu durchdenken ist der entscheidende erste Schritt. Doch damit neue Messgrößen zur Entwicklung vernünftigerer Perspektiven führen, müssen wir zugleich ein strategisches öffentliches Finanzwesen unterstützen und die rechtlichen und wirtschaftspolitischen Hebel im öffentlichen, privaten und dritten Sektor stärken. Dies bedeutet, die Steuerbasis zu verbreitern, eine stärker progressive Besteuerung einzuführen, die finanzielle Bildung zu verbessern, die Teilhabe am Finanzsystem auszuweiten, die Fähigkeiten des öffentlichen Sektors zur Schaffung gerechter finanzieller Rahmenbedingungen zu steigern und die finanziellen Hürden für die Erbringung von Gesundheitsleistungen zu beseitigen.

Gemeinschaften stärken

Dieser gesamtgesellschaftliche Ansatz würde wenig bedeuten, wenn er nicht alle beteiligten Gruppen – insbesondere die durch die Gesundheitspolitik am stärksten betroffenen lokalen Gemeinschaften – stärken würde. Die gemeinschaftliche Steuerung durch öffentlich-privat-genossenschaftliche Partnerschaften muss durch einen demokratischen Prozess unterstützt werden; nur dann werden unsere neuen Fortschrittsmaßnahmen sozialverträglich und lokal relevant sein.

Die Volkswirtschaft misst bislang den Preis von allem und den Wert von gar nichts. Das muss sich ändern. Wir müssen den Wert von allem messen, damit wir die Dinge berücksichtigen können, die wirklich wichtig sind. Gesundheit und Wohlbefinden – und die Pflege, die sie aufrechterhält – sollten unsere primären Messgrößen für den Erfolg sein. (Mariana Mazzucato, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 20.3.2022)