Im Gastkommentar fordern der Ökonom Lukas Lehner und der Politik- und Sozialwissenschafter Philip Rathgeb auch ein höheres Arbeitslosengeld und eine bessere Absicherung von Einzelunternehmerinnen und -unternehmern.

Haben Arbeitslose keinen Job, weil es ihnen zu gut geht? Diese Vermutung dürfte jedenfalls hinter der geplanten Arbeitsmarktreform stehen, die etwa ein degressives Arbeitslosengeld sowie strengere Zumutbarkeitsbestimmungen und Zuverdienstregeln vorsieht. Alle drei Forderungen suggerieren, dass erhöhter finanzieller und rechtlicher Druck die Anreize zur Arbeitsaufnahme stärkt und damit die Arbeitslosigkeit nachhaltig senkt, insbesondere unter Langzeiterwerbslosen. Auch wenn aktuell – vermutlich pandemiebedingt – ein anderer Ton herrscht, so erinnert diese Problemeinschätzung doch an frühere Debatten über "Sozialschmarotzer" oder "Durchschummler". Arbeitslosigkeit ist in den meisten Fällen allerdings weniger ein individuelles Verschulden, sondern ein durch strukturelle Umbrüche am Arbeitsmarkt verursachtes Massenphänomen. Im Jahr 2020 war jeder vierte unselbstständige Arbeitnehmer zumindest einen Tag lang erwerbsarbeitslos, also über eine Million Menschen in Österreich. Aber auch vor der Pandemie im Jahr 2019 war etwa jeder fünfte Arbeitnehmer betroffen.
Strukturelles Problem
Wer den Blick auf die individuelle Ebene verlässt und sich hingegen den konkreten historischen Umbrüchen am Arbeitsmarkt widmet, stößt im 20. Jahrhundert auf die Schlagwörter "Deindustrialisierung" und "Globalisierung" sowie im 21. Jahrhundert auf "Digitalisierung" und "Klimaneutralität". So sind laut einer Studie der OECD zwölf Prozent der Jobs in Österreich vom Risiko des Jobverlusts durch Automatisierung betroffen – der höchste Wert im Vergleich zu allen OECD-Ländern. Dies lässt sich teilweise damit erklären, dass in Österreich immerhin 40 Prozent der unselbstständig Beschäftigten in sogenannten Routinejobs tätig sind, welche von Automatisierung besonders betroffen sind. Dies betrifft manuelle Tätigkeiten wie die Bedienung von Maschinen, aber auch kognitive Tätigkeiten wie die Buchhaltung oder das Sekretariat. Routinetätigkeiten verteilen sich ungleichmäßig auf die Bevölkerung. Frauen sind etwa verhältnismäßig stärker vom Automatisierungsrisiko betroffen.
Diese Zahlen sollten jedoch nicht zur Panik veranlassen, denn gleichzeitig entsteht ein wachsender Arbeitskräftebedarf in anderen Branchen, etwa in der sozialen Infrastruktur oder in digitalen Dienstleistungen. Die Zahlen verdeutlichen jedoch, wie sehr individuelle Arbeitslosigkeit durch strukturelle Berufs-, Branchen- und Marktentwicklungen bedingt ist. Trotzdem wurden in den letzten 30 Jahren die Zumutbarkeitsbestimmungen stetig verschärft – heuer offenbar erneut.
Risiken verringern, nicht verschärfen
Arbeitsmarktpolitik bedeutet eben nicht gleich Beschäftigungspolitik. Um Arbeitslosigkeit zu reduzieren sowie Beschäftigung zu erhöhen, bedarf es vielmehr eines politikfeldübergreifenden Zusammenspiels, das auf die strukturellen Umbrüche am Arbeitsmarkt eingeht, angefangen vom Ausbau öffentlich bereitgestellter Kinderbetreuung bis hin zu industriepolitischen Maßnahmen zugunsten neuer "Green Jobs", etwa in der Energieerzeugung oder im Recycling. Die Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik sollte es jedenfalls nicht sein, das Arbeitslosigkeitsrisiko weiter zu verschärfen.
Bereits heute liegt das durchschnittlich ausbezahlte Arbeitslosengeld bei unter 1.000 Euro pro Monat – weit unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.328 Euro für einen Einpersonenhaushalt. Das führt dazu, dass vier von zehn Arbeitslosen sich keine neue Kleidung leisten können und nahezu jeder fünfte Arbeitslose nicht mehr daran glaubt, die Miete in den nächsten sechs Monaten bezahlen zu können. Frauen sind dabei besonders vom Armutsrisiko betroffen, da jede Zweite von ihnen aufgrund der in Österreich besonders schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Teilzeit beschäftigt ist. Der Mangel an Kinder- und Altenbetreuung macht sich auch hier bemerkbar.
Mehr Unterstützung
Vielmehr ist die Politik gefordert, die strukturelle Dynamik am Arbeitsmarkt durch Armutsbekämpfung sowie berufliche Qualifizierungs- und gesundheitliche Rehabilitationsmaßnahmen zu begleiten und zu kompensieren. Ein großzügiger ausgestaltetes Arbeitslosengeld erleichtert es den Beschäftigten, neue Jobs und Qualifikationen in boomenden Sektoren zu erlernen, wie Ergebnisse aus Österreich, aber auch internationale Vergleichsstudien zeigen.
Vor allem Langzeiterwerbslose brauchen deutlich mehr Unterstützung. Über 40 Prozent aller Arbeitslosen sind bereits länger als ein Jahr ohne Job, gelten also als langzeitbeschäftigungslos. Davon hat knapp jeder Dritte eine gesundheitliche Einschränkung oder Behinderung, die Hälfte hat maximal einen Pflichtschulabschluss. Besonders diese Gruppe braucht von der Politik mehr Rehabilitations-, Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Ein innovativer Ansatz dazu wird derzeit vom AMS im niederösterreichischen Gramatneusiedl pilotiert: statt Kürzungen im Arbeitslosengeld und strengeren Strafen bekommt jeder Langzeitbeschäftigungslose einen vollwertigen Job angeboten. Dies soll ein weiteres Abtauchen in die Armutsfalle verhindern und dem gesundheitlichen Erkrankungsrisiko sowie der sozialen Isolationsgefahr entgegenwirken.
Soloselbstständige absichern
Die Arbeitsmarktreform sollte diese Erkenntnisse einbeziehen. Gleichzeitig würde die Gesetzesänderung Anlass bieten, die von Einkommensausfällen besonders oft betroffene Gruppe der Soloselbstständigen gegen Arbeitslosigkeit abzusichern. Im Jahr 2008 wurden etwa freie Dienstnehmer als Beitragszahler und -empfänger in die Arbeitslosenversicherung integriert. Für Selbstständige wurde zwar die Möglichkeit einer freiwilligen Arbeitslosenversicherung geschaffen, diese Option ist allerdings nicht besonders attraktiv ausgestaltet und wird deshalb wenig genutzt. Heute könnte eine Erweiterung des Versichertenkreises zugunsten der häufig prekären Soloselbstständigen angedacht werden. Ein solcher Maßnahmenmix aus Absicherung, Qualifizierung und Rehabilitation würde den Betroffenen helfen, im Zuge des technologischen Wandels neu durchzustarten. (Lukas Lehner, Philip Rathgeb, 21.3.2022)