Über ihre Studie zu demografiepolitischen Diskursen berichten die Wissenschafterinnen Swantje Höft, Judith Goetz, Livia Sz. Oláh und Andrea Pető im Gastblog.

Seit den 1990ern ist die demografische Wende ein heiß diskutiertes politisches Thema. Die Herausforderungen, die aus der alternden Erwerbsbevölkerung und den vergleichsweise niedrigen Geburtenzahlen resultieren, wurden in den letzten Jahrzehnten auch häufig in der Europäischen Union diskutiert. Zwei Faktoren haben dabei in jüngster Vergangenheit die Aufmerksamkeit für Demografie gesteigert: Das von rechtsextremen Akteurinnen und Akteuren seit 2015 verstärkt geschürte Angstnarrativ einer „Invasion von Geflüchteten“ und der Umstand, dass die EU-Kommission unter der Schirmherrschaft von Ursula von der Leyen demografische Herausforderungen zu einem Kernthema ihrer politischen Agenda erkoren hat.

Demokrafiepolitik gewann innerhalb der EU-Institutionen spätestens Ende 2019 besonders an Bedeutung. Zu der Zeit wurde eine neue EU-Kommission für Demokratie und Demografie gegründet – und zwar unter Kommissions-Vizepräsidentin Dubravka Šuica. In den damit verbundenen politischen Debatten innerhalb der EU dominieren dabei vor allem Konservative und Rechtsextreme, die das Thema in ihrem Interesse zu präsentieren wissen. Drei Themen spielen dabei eine wichtige Rolle: sinkende Geburtenraten, eine alternde Bevölkerung sowie die Kombination von Migration und Mobilität.

Demografiepolitiken auf EU-Ebene

Die andauernde Bedeutung demografiepolitischer Diskurse auf EU-Ebene bestätigt auch unsere kürzlich veröffentlichte Studie "Discourses on Demography in the EU Institutions". Die dafür durchgeführte Analyse von Twitterposts machte deutlich, dass nicht nur die Häufigkeit der Thematisierung demografischer Anliegen stark vom politischen Lager abhängt, sondern auch die Art und Weise, wie die Anliegen dargestellt werden.

Aus der Studie geht hervor, dass alle politischen Parteien den schrumpfenden Anteil der Erwerbstätigenbevölkerung in der EU als eine große Herausforderung betrachten. Zudem ließen sich drei zentrale Themen identifizieren, die als treibende Kräfte des demografischen Wandels in der EU verhandelt werden: steigende Lebenserwartung, Migration und Mobilität und sinkende Geburtenraten.

Mit Blick auf die genannten demografischen Themen kristallisierten sich wiederum drei Positionen heraus, wobei die EU-Kommission die einflussreichste vertritt: durch ihre Stellung kann sie Themen etablieren und demografische Narrative wesentlich prägen. Eine weitere Position besteht aus ultrakonservativen und rechten Akteurinnen und Akteuren, für die demografische Anliegen den Kern ihrer politischen Agenda darstellen.

Die dritte erkennbare Position vertreten liberale und progressive Akteurinnen und Akteure, die in der Regel auf rechte Rhetoriken reagieren, anstatt eigene politische Ziele zur Bewältigung des demografischen Wandels vorzulegen.

Der Geburtenrückgang ist nur ein Diskurs, den die Rechten aufgreifen.
Foto: AFP/JOHN MOORE

Die unterschiedlichen Positionen lassen sich beispielsweise anhand des Demografieberichts (2020) veranschaulichen, in dem die EU-Kommission auf die wesentlichsten Folgen des demografischen Wandels in Europa eingeht. Ihre Einschätzungen bauen dabei auf einer Analyse der UN auf, die besagt, dass Europas Anteil an der Weltbevölkerung, der in den 1960ern bei zwölf Prozent lag, 2070 nur noch vier Prozent ausmachen werde. Daraus schließt die EU-Kommission: „Der demografische Wandel kann sich auch auf die Stellung Europas in der Welt auswirken. Der Anteil Europas an der Weltbevölkerung und am BIP wird schrumpfen. Umso wichtiger wird es für Europa sein, strategisch zu denken und in Form von Geschlossenheit seine Stärke zu wahren.”

Die Darstellung ist jedoch insofern verzerrend, als die Entwicklung Europas aus dem Kontext gerissen wurde, denn für alle größeren Industrienationen – USA, Russland, China – wird der gleiche Bevölkerungsrückgang prognostiziert. Gerade diese alarmistische Rhetorik macht es rechten Akteurinnen und Akteuren ein leichtes Spiel, an diese institutionell legitimierte Darstellungsweise anzuknüpfen und sie für ihre politische Agenda zu nutzen.

Gelöschter Twitter-Post der Parlamentsfraktion "Renew Europe".
Screenshot: Twitter

Von sinkenden Geburtenraten zum großen Austausch

In Hinblick auf die verstärkte Bezugnahme auf bevölkerungspolitische Überlegungen spricht auch die Politikwissenschafterin Susanne Schultz von einem „Bedeutungsgewinn demografischer Krisendiskurse“. Die Politikwissenschafterinnen Diana Hummel und Eva Barlösius haben für die Tendenz, „gesellschaftliche Problemlagen und Konflikte als demografisch bedingte“ zu verhandeln, den Begriff der Demografisierung geprägt. Die Anschlussfähigkeit dieser Krisendiskurse wurde auch von rechtsextremen Akteurinnen und Akteure des Europäischen Parlaments erkannt. Da demografische Themen gesellschaftlich umstritten sind, werden sie von EU-Institutionen oftmals mit vagen Begriffen verhandelt. Bevölkerungsstudien und -politiken stehen seit Beginn an vor dem Widerspruch, auf der einen Seite auf Verbesserungen des Wohlergehens der Gesellschaft abzuzielen und auf der anderen Seite für staatliche Zwecke instrumentalisiert zu werden.

Der Interpretationsspielraum, den demografische Statistiken mit sich bringen, erweist sich – so ein weiteres Ergebnis der Studie – als besonders attraktiv für völkische Ambitionen rechtsextremer Akteurinnen und Akteure. Demografiepolitische Diskurse werden dabei von der extremen Rechten vor allem genutzt, um zwei Ziele zu erreichen: die Popularisierung ihrer politischen Agenda und die Normalisierung rechtsextremer Denkweisen.

Im Rahmen von Untergangsfantasien konstruiert die extreme Rechte eine in vielerlei Hinsicht bedrohte „autochthone“ Bevölkerung: durch deren sinkende Geburtenrate, den angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ durch Einwanderung, Multikulturalismus und „Islamisierung“ sowie die Alterung der Bevölkerung. So zeigt sich beispielsweise, dass rechtsextreme Akteurinnen und Akteure verschiedene Feindinnen, Feinde und Bedrohungen – von Islam, Feminismus, Chancengleichheit, Geschlechtertheorien und LGBTQIA+Rechten bis hin zur EU und linker Politik im Allgemeinen – innerhalb des narrativen Rahmens des „Bevölkerungsaustauschs“ verschmelzen und als demografisch bedingt entsprechend ihrer Absichten umdeuten.

Die extreme Rechte: Europas demografischer Winter

Mit Ausnahme von spanischen Parlamentsabgeordneten der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D), die die in Spanien sinkenden Geburtenraten im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsrückgang im ländlichen Raum thematisieren, überlassen progressive liberale Parteien das Feld rechten Akteurinnen und Akteuren. Diese wiederum besetzen demografische Debatten, beispielsweise mit antifeministischen Rhetoriken, wonach „selbstgerechte Selbstbestimmungsrechte“ für die sinkenden Geburtenraten der „autochthonen“ Bevölkerung in Europa verantwortlich seien.

Insbesondere die pro-natalistische, also reproduktionsbestärkende Familienpolitik Polens und Ungarns gilt vielen Rechten als Antwort auf den von der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) beschworenen „demografischen Winter“. In diesem Sinne forderte beispielsweise der Parlamentsabgeordnete der Fraktion Identität und Demokratie (ID), Joachim Kuhs (AfD), eine „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene”, womit ein Wertewandel sowie eine diskursive Umdeutung sowohl von Abtreibungspolitik wie auch von Angela Merkels „Willkommenskultur für Geflüchtete“ angeregt werden sollte. Sein Parteikollege Maximilian Krah (AfD) wiederum sprach von einer „Einwanderungsgeilheit”, die sich angeblich hinter dem Deckmantel des „Fachkräftemangels“ verstecken würde.

Bereits gelöschter Tweet von Joachim Kuhs.
Screenshot: Twitter

Notwendiger Wandel der Demografiepolitik

Zusammenfassend hat die Studie gezeigt, dass dieselben statistischen Daten (zum Beispiel Eurostat) von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlich interpretiert und/oder instrumentalisiert werden, um politisches Handeln für ihre jeweiligen Zwecke zu legitimieren. Dabei generieren unter anderem demografiepolitische Debatten im Bereich der Migration eine Deutungsvorlage, auf der rechte Antimigrationsdiskurse aufbauen können. Dies erscheint nicht überraschend, da die Fokussierung auf demografiepolitische Themen zahlreiche Vorteile für die extreme Rechte bringt. Indem sie die demografische Entwicklung als zentralen Punkt nutzen, können sie einerseits gesellschafts-, familien-, frauen- und reproduktionspolitische Themen ansprechen, andererseits aber auch mit Fragen der Migration und Zuwanderung verknüpfen.

Das Narrativ des demografischen Wandels hat der extremen Rechten Möglichkeiten eröffnet, rassistische Diskurse zu modernisieren und ihre Themen in Mainstream-Medien zu etablieren und damit die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ zu erreichen. Das Potenzial ergibt sich vor allem daraus, dass die Rede vom gesellschaftlichen und demografischen Wandel sehr weit verbreitet ist und in vielen Bereichen diskutiert wird. An diese Diskurse können rechtsextreme und konservative Akteurinnen und Akteure leicht anknüpfen und ihre (meist rassistischen) Standpunkte sowohl einbringen als auch weiterverbreiten.

Die Auseinandersetzung mit dem demografiepolitischen Diskurs der extremen Rechten erscheint daher besonders wichtig, so zeigt die Studie auf, weil es sich um eines jener Themen handelt, bei dem nicht nur politisch-ideologische Überschneidungen zwischen der sogenannten „Mitte“ und der extremen Rechten deutlich werden, sondern mit dem die extreme Rechte auch in anderen politischen Spektren punkten kann. Feministische und progressive Beschäftigungen mit dem Thema wären daher ebenso dringend notwendig wie die Entwicklung von solidarischen Gegennarrativen, um das Feld eben nicht den Rechten zu überlassen. (Swantje Höft, Judith Goetz, Livia Sz. Oláh, Andrea Pető, 15.3.2022)

Swantje Höft ist Masterstudentin der Gender Studies an der Central European University, Vienna.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin, Gender-Forscherin und Rechtsextremismusexpertin sowie Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) und des Forschungsnetzwerks Frauen und Rechtsextremismus.

Livia Sz. Oláh ist außerordentliche Professorin für Demographie an der Universität Stockholm, mit Expertise auch in Rechts- und Politikwissenschaften, vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung und Gender Studies.

Andrea Pető ist Historikerin und Professorin am Department of Gender Studies der Central European University.

Alle Autorinnen sind auch in der European Feminist Platform aktiv.

Hinweis: Bei diesem Blogbeitrag handelt es sich um einen zusammengefassten Ausschnitt der "Studie Discourses on Demography in the EU Institutions", die im Februar 2022 veröffentlicht wurde. Sie wurden von den Verfasserinnen dieses Textes durchgeführt. Die erste Präsentation der Studie findet im Rahmen eines kostenlosen Webinars am 16. März 2022 statt. Anmeldung hier.

Weitere Beiträge im Blog