
Wolodymyr Selenskyj warnte angesichts der mutmaßlichen Entführung des Bürgermeisters von Melitopol auch vor einer "neuen Phase" des russischen "Terrors".
Die Bevölkerung von Städten und Dörfern in der Ukraine ist am Samstag erneut unter verstärkten Beschuss der russischen Armee genommen worden. Vor allem aus dem Süden wurden heftige Kämpfe gemeldet, aber auch im Osten sowie aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew. Bei der Evakuierung eines Dorfes östlich von Kiew wurden offenbar sieben Menschen getötet. Das meldete der ukrainische Militärgeheimdienst. Diese Angaben ließen sich nicht überprüfen.
Das russische Verteidigungsministerium sprach am 17. Kriegstag von Angriffen auf "breiter Front", die russischen Truppen seien weitere zwölf Kilometer vorgerückt. Dabei hätten sie die Kontrolle über mehrere Dörfer erlangt. Insgesamt habe die russische Armee bei Angriffen in der Ukraine am Samstag 79 Militäranlagen zerstört. Russland behauptet, nur militärische Ziele und keine zivilen Objekte anzugreifen. Die Vereinten Nationen haben dagegen eigenen Angaben zufolge Informationen über den völkerrechtswidrigen Einsatz von Streumunition durch russische Truppen– auch in besiedelten Gebieten. Zudem seien 26 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine bekannt, bei denen zwölf Menschen gestorben seien.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete seinerseits von erheblichen Verlusten der Angreifer und dem "größten Schlag für die russische Armee seit Jahrzehnten". Inzwischen seien 12.000 russische Soldaten getötet worden. Die Verluste in den eigenen Reihen seit Kriegsbeginn gab er mit etwa 1.300 Soldaten an. All die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Katastrophale Lage in Mariupol
In Mariupol stießen prorussische Separatisten mit Unterstützung russischer Truppen in östliche Randbezirke vor, wie die ukrainischen Streitkräfte mitteilten. Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium die Einnahme mehrerer Stadtteile gemeldet. Mariupol wird seit Tagen belagert. Nach Angaben aus Kiew ist die Stadt aber weiter in ukrainischer Hand. Die humanitäre Lage dort ist dramatisch, Zehntausenden Menschen fehlt es an Essen, Wasser und Medikamenten.
Erneut sei ein Konvoi mit Hilfsgütern und Bussen zur Evakuierung in die Stadt aufgebrochen, sagte die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Aber auch der fünfte Versuch eines Fluchtkorridors ist nach russischen Angaben gescheitert. Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld dafür.
Weitere Kämpfe im Osten und im Süden
Im Osten des bedrängten Landes soll die umkämpfte Kleinstadt Isjum an der Grenze zum Donezker Gebiet laut ukrainischen Angaben bereits etwa zur Hälfte unter russischer Kontrolle stehen. Die angreifenden Truppen hätten sich im nördlichen Teil der Stadt verschanzt. Eine unabhängige Bestätigung dafür war nicht möglich.
Rund um die von den Russen eroberte Stadt Wolnowacha im Donbass versuchten die russischen Truppen nach Kiewer Angaben, eine Offensive zu starten. Heftige Kämpfe habe es zudem um die Ortschaft Rubischne im Luhansker Gebiet gegeben. Ebenfalls im Osten der Ukraine nahmen die Angreifer nach russischen Angaben zahlreiche Ortschaften ein. Laut dem Gouverneur der Region Donezk ist Wolnowacha völlig zerstört; der Kampf um das Territorium der Stadt gehe weiter, so Pawlo Kyrylenko.
Nach ukrainischen Militärangaben versuchen russische Truppen zudem, die nordostukrainische Stadt Tschernihiw aus südwestlicher Richtung zu blockieren. Präsident Selenskyj sagte, die Großstadt mit knapp 280.000 Einwohnern sei ohne Wasserversorgung.
Aus dem Süden schrieb der Gouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim: "Die Besatzer haben nachts mit wahllosem, chaotischem Feuer Krankenhäuser und Internate beschossen." Die Angreifer hätten ihre Taktik geändert und versteckten sich in Dörfern zwischen Zivilgebäuden. Mykolajiw liegt an der Mündung des Südlichen Bugs ins Schwarze Meer. Sollten russische Truppen die Stadt einnehmen oder umgehen, stünde ihnen der Landweg nach Odessa offen.
Selenskyj will mit Putin in Jerusalem verhandeln
Russland verfolgt nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei den Gesprächen über eine Beendigung des Krieges mittlerweile einen "grundlegend anderen Ansatz". Zunächst hätten die Vertreter Moskaus nur "Ultimaten gestellt", sagte Selenskyj am Samstag. Mittlerweile habe man "angefangen zu reden".
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Freitag gesagt: "Da sind gewisse positive Veränderungen, haben mir unsere Unterhändler berichtet." Die Verhandlungen würden "nun auf fast täglicher Basis geführt".
Delegationen aus Kiew und Moskau waren in den vergangenen zwei Wochen drei Mal persönlich zu Gesprächen in Belarus zusammengekommen, zudem trafen sich die Außenminister der beiden Länder am Donnerstag im türkischen Antalya. Im Mittelpunkt vor allem der Verhandlungen in Belarus stand die Schaffung von Fluchtkorridoren für Zivilisten. Die Verhandlungen wurden laut Kreml-Angaben am Samstag per Videoschaltung fortgesetzt. Putin hatte in den vergangenen Tagen wiederholt erklärt, dass Russland zu einer Einstellung der Kampfhandlungen bereit sei. Im Gegenzug müssten die Ukraine und der Westen die Forderungen Moskaus akzeptieren. Putin verlangt unter anderem die Neutralität und eine "Entmilitarisierung" der Ukraine sowie die Anerkennung der russischen Souveränität über die 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim.
Vermittlungsversuche
Selensky bedauerte, dass sich der Westen "nicht ausreichend" engagiere. Sicherheitsgarantien müssten von ausländischen Partnern angeboten werden. Er schlug am Samstag Jerusalem als möglichen Ort für Verhandlungen über ein Kriegsende mit Putin vor. Der Kreml hat ein Treffen von Putin und Selenskyj nicht ausgeschlossen. "Aber zuerst müssen sowohl Delegationen als auch Minister ihren Teil dazu leisten, dass sich die Präsidenten nicht um des Prozesses, nicht um des Gesprächs, sondern um des Ergebnisses willen treffen", ließ der Kreml am Freitag wissen.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron forderten Putin am Samstag zu einem sofortigen Waffenstillstand auf. Außerdem drangen Scholz und Macron auf einen Einstieg in eine diplomatische Lösung des Konflikts. Nach Angaben aus Kreisen des französischen Präsidialamts bat Selenskyj sowohl Scholz auch als Macron darum, sich bei Putin für Verhandlungen, eine Waffenruhe und auch für den nach ukrainischen Angaben entführten Bürgermeister von Melitopol einzusetzen.
In einer Videoansprache aus der Nacht hatte Selenskyj die mutmaßliche Entführung des Bürgermeisters von Melitopol als einen Versuch Russlands, die offiziellen Stellen in der Ukraine auszuschalten, bezeichnet. "Dies ist offensichtlich ein Zeichen der Schwäche der Invasoren. Sie haben keine Kollaborateure gefunden, die den Besatzern die Städte und die Macht überlassen. Deshalb sind sie in eine neue Phase des Terrors eingetreten, in der sie versuchen, Vertreter lokaler ukrainischer Behörden zu beseitigen."
Demnach sei Iwan Fedorow von russischen Soldaten entführt worden. Er sei am Freitag bei einem Besuch des Krisenzentrums von Melitopol von einer Gruppe von "zehn Besatzern" verschleppt worden, als er sich um Versorgungsfragen kümmern wollte, teilte das ukrainische Parlament auf Twitter mit. "Er weigerte sich, mit dem Feind zu kooperieren", hieß es in der Twitter-Nachricht.
Hunderte demonstrieren für Freilassung
Der stellvertretende Leiter der ukrainischen Präsidialverwaltung, Kirillo Timoschenko, veröffentlichte ein Video, auf dem Soldaten in einiger Entfernung aus einem Gebäude kommen und dabei einen schwarzgekleideten Mann mit sich führen, dessen Kopf offenbar in einem schwarzen Sack steckt. Die Videoaufnahmen ließen sich bisher nicht unabhängig prüfen.
Wie das ukrainische Staatsfernsehen berichtet, haben sich am Samstagvormittag rund 2.000 Menschen im Stadtzentrum Melitopols versammelt, um für die Freilassung ihres Bürgermeisters zu demonstrieren. Wie die "Tagesschau" berichtet, liegt laut dem Büro der Staatsanwaltschaft in der von Russland unterstützten Separatistenregion Luhansk eine Strafsache gegen den Bürgermeister vor und es würde nach ihm gefahndet. Ihm würden "terroristische Aktivitäten" und die Finanzierung einer nationalistischen Miliz vorgeworfen, um "Terrorakte gegen Zivilisten im Donbass zu verüben". Die Stadt liegt rund 120 Kilometer südlich von Saporischschja, dessen Atomkraftwerk ebenfalls von russischen Truppen besetzt wurde. (red, APA, 12.3.2022)