Zahlreiche Unternehmen wie Volkswagen boykottieren Russland und fürchten nun Konsequenzen.

Foto: Oliver Killig

Die Zeichen des Ukraine-Krieges stehen auch an der Wirtschaftsfront auf Eskalation. In den vergangenen Wochen haben zahlreiche westliche Unternehmen angekündigt, sich aus Russland zurückzuziehen. Als Reaktion darauf droht die russische Staatsspitze nun offen mit der Enteignung westlicher Konzerne, die "ihr Vermögen zurücklassen".

Laut einem Plan der Kremlpartei "Einiges Russland" sollen Betriebe, die Russland verlassen, zunächst auf Anzeichen einer "absichtlichen oder Scheininsolvenz" geprüft werden. Wenn die Konzernführung "faktisch aufgehört hat", das Unternehmen zu leiten, oder den Betrieb "unbegründet" einstellt, könnte demnach ein Insolvenzverwalter bestellt werden, der die Anteile des betroffenen Unternehmen verkauft oder "nationalisiert".

Schutz durch Investitionsabkommen

Auf einer ersten Liste der Betriebe, die verstaatlicht werden könnten, stehen etwa Volkswagen, Porsche oder Ikea. Tatenlos zusehen, wie ihr Vermögen in Russland "nationalisiert" wird, müssten die Konzerne allerdings nicht. Werden ihre Betriebe verstaatlicht, könnten sie sich auf Investitionsschutzabkommen (BITs) stützen und von Russland Schadenersatz fordern.

Derartige Abkommen hat Russland mit zahlreichen Ländern wie Deutschland, Österreich oder Italien abgeschlossen. Sie sollen Investitionen von ausländischen Unternehmen fördern, indem sie das Gastgeberland dazu verpflichten, Investorinnen und Investoren gerecht zu behandeln. Unternehmen, die sich aus Moskau zurückziehen und deren Vermögen grundlos "nationalisiert" wird, könnten sich auf Basis der Abkommen daher an Schiedsgerichte wenden.

"Zahlreiche Unsicherheiten"

"Das ist sicher mehr als nur eine theoretische Möglichkeit", sagt Michael Waibel, Professor für Völkerrecht an der Universität Wien im Gespräch mit dem STANDARD. Klagen vor internationalen Schiedsgerichten könnten durchaus Erfolg haben. Das zeigen auch Fälle aus der Vergangenheit wie etwa der Zusammenbruch des russischen Yukos-Konzerns im Jahr 2004. Ein Schiedsgericht sprach geschädigten ausländischen Aktionärinnen und Aktionären damals 50 Milliarden Dollar zu.

Die aktuelle Situation sei aber speziell; es gebe daher eine "Reihe an Unsicherheiten", erklärt Waibel. Fraglich sei etwa, wie Investitionsschutzabkommen und die Wirtschaftssanktionen zusammenwirken. "Da befinden wir uns auf ziemlichem Neuland", sagt Waibel. Denn theoretisch könnten im Gegenzug auch russische Oligarchen, deren Vermögen eingefroren wurde, vor Schiedsgerichte ziehen.

Offen sei zudem, ob mögliche Schiedsurteile durchsetzbar sind. Dass Russland freiwillig Schadenersatz zahlt, hält Waibel für ausgeschlossen. Denkbar wäre aber, dass erfolgreiche Klägerinnen und Kläger auf russisches Vermögen zugreifen, das sich in Europa oder den USA befindet. "In der Vergangenheit war das aufgrund der Immunität von Staaten oft nicht möglich", sagt Waibel. "In Anbetracht der aktuellen Lage könnte sich die Rechtsprechung aber ändern." (Jakob Pflügl, 15.3.2022)