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Nicht nur Kitsch, auch ernsthafte Kunst aus Russland wird nun kritisch beäugt, Engagements vielfach beendet – ob in allen Fällen richtig gehandelt wird, ist umstritten. Auf ein einfaches Ja oder Nein lässt sich die Frage nach Boykotten nicht verengen. Jeder Einzelfall ist eine Abwägung.

Valery Sharifulin / Tass / picturedesk.com

Täglich sterben in der Ukraine Menschen. Soldaten, Zivilpersonen, Kinder. Wladimir Putins Angriffskrieg gegen ein souveränes Nachbarland bedeutet eine Zäsur für Europa. Noch nie dagewesene Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind die Folge – dass das auch den international eng verflochtenen Kulturbetrieb erreichen würde, ja musste, war klar.

Russische Oligarchen werden dazu gedrängt, ihre Kulturengagements zurückzuziehen, prominente russische Kunstschaffende sollen sich deklarieren, andernfalls drohen Absagen und Vertragskündigungen. Andere wiederum ziehen ihr Engagement in Russland aus Protest gegen den Krieg von sich aus zurück, innere und tatsächliche Emigration wird erstmals seit der Wende wieder im großen Stil Thema.

Unscharfe Begriffe

Diskutiert wird all das aktuell unter dem Begriff "Kulturboykott", manche sprechen auch von "Cancel-Culture", wirklich treffend ist beides nicht: Boykott meint eigentlich eine orchestrierte, systematische Sanktionspolitik, wie sie zum Beispiel die umstrittene, gegen die israelische Palästina-Politik gerichtete Kampagne BDS verfolgt. Das Vorgehen gegen Putins Russland hingegen fußt nicht auf einer orchestrierten Kampagne, sondern auf souveränen Einzelfallentscheidungen jeder einzelnen Kulturinstitution und jedes einzelnen Kunstschaffenden. Dass es da zu einem Schneeballeffekt nach dem Motto "Wer nicht mitzieht, stimmt zu" kommen kann, steht auf einem anderen Blatt.

Gänzlich in die Irre führt aber der Begriff "Cancel-Culture". Er wurde in den letzten Jahren (häufig polemisch) herangezogen, um Einwände von Verfechtern strengerer Political Correctness gegen vermeintlich anstößige Kulturerzeugnisse abzuschmettern. Oft genug – und wie auch jetzt – bleibt dabei aber die Differenzierung auf der Strecke.

Tschaikowsky unpassend

Aktuellstes Beispiel: die Entscheidung des Cardiff Philharmonic Orchestra, bei einem kommenden Konzert ein Stück des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky aus dem Programm zu streichen. Sofort gab es Empörung, hier würde Welterbe aus Russland auf die Cancel-Culture-Liste gesetzt. Was meist nicht dazugesagt wird: Die Streichung betraf Tschaikowskys Ouvertüre 1812, die die Verteidigung Russlands gegen die Invasion Napoleons feiert und in der eine Kanonensalve zu hören ist. Mitglieder des Orchesters fanden dies zum jetzigen Zeitpunkt schlicht unpassend – bei näherer Betrachtung also kein Skandal, sondern nur umsichtig.

Die Erregungskurve hochschnellen ließ hingegen auch die Forderung des ukrainischen PEN-Clubs, russische Literatur zu boykottieren. Dabei entspringt sie, was nicht vergessen werden sollte, der wohl verständlichen Verzweiflung im Krieg Befindlicher. Ernstzunehmende Stimmen im Westen, die solche Pauschalboykotte fordern, gibt es ohnehin nicht, der deutsche PEN-Club-Präsident Deniz Yücel rückte es mit der Formel "Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin" zurecht.

Sozialer Druck im Netz

Klar ist, dass der soziale Druck auf Kunstschaffende und Institutionen im Netz zunimmt, sich eindeutig zu positionieren. Hier wäre tatsächlich mehr Fingerspitzengefühl gefragt: Denn Einzelpersonen, gerade jene, die keine starken Auffangnetze hinter sich wissen, können immer auch gute Gründe haben, sich aktuell nicht zu deklarieren – etwa um Angehörige zu schützen.

Auf ein einfaches Ja oder Nein lässt sich die Frage um Boykottmaßnahmen jedenfalls nicht verengen. Jeder Einzelfall bedarf genauer Abwägung. Und dass kulturelle Brücken auch nur temporär hochgezogen werden können, ohne sie gleich ganz einzureißen, wäre dabei wohl kein schlechter Leitgedanke.

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Kunst: Oligarchen und abgesagte Ausstellungen

Das New Yorker Guggenheim-Museum verlor einen seiner wichtigsten Geldgeber, den Oligarchen Wladimir Potanin.
Foto: AFP

Das Spektrum an Reaktionen der Kunstszene reicht von Boykottaufrufen über Solidaritätsbekundungen bis hin zu Rücktritten oder Aufkündigungen bestehender Kooperationen seitens des Westens ebenso wie Russlands. Ein Krieg als Anlass, um Haltung zu zeigen, aber auch um zu inszenieren. Dort, wo Differenzierung fehlt, gilt dann die Symbolik. Die ukrainische Beflaggung diverser Institutionen mindert keine Kriegsgräuel, dokumentiert aber eine Position.

Eine solche bezogen zwischenzeitlich sowohl Museen als auch Oligarchen. Zu letzterer Kategorie gehört etwa der Metallmagnat Wladimir Potanin, der Anfang März proaktiv "mit sofortiger Wirkung" nach 20 Jahren und vielen spendierten Millionen aus dem Vorstand des Guggenheim-Museums in New York zurücktrat. In London schmiss wiederum Pjotr Awen sein Amt als Treuhänder der Royal Academy of Arts. Der Oligarch, der die größte Geschäftsbank Russlands leitet, steht auf der EU-Sanktionsliste.

An der Museumsfront kam es zu einigen Absagen: von langjährigen Partnerschaften, wie im Falle der Eremitage, ebenso wie im Umfeld von Ausstellungen. Mitte März hätte in der Manege in St. Petersburg die erste Einzelschau des 2021 verstorbenen französischen Künstlers Christian Boltanski in Russland stattfinden sollen. Boltanskis Vorfahren waren jüdische Einwanderer aus Odessa. Seine Erben entschieden sich für eine vorläufige Absage.

Störung im Leihverkehr

Die Kreml-Museen sahen sich wiederum gezwungen, eine Ausstellung zu verschieben. "Duell – vom Gottesurteil zum edlen Verbrecher" hätte am 4. März eröffnet werden sollen, doch hatten zahlreiche europäische Museen ihre Leihgaben zurückgezogen. Darunter der Prado (Madrid), die britische Royal Collection, der Louvre (Paris) oder auch das Kunsthistorische Museum.

Ende vergangener Woche orderte schließlich die Eremitage ihre bei Ausstellungen in Italien gastierenden Leihgaben zurück. Die Albertina hatte zwölf Blätter von Albrecht Dürer erst gar nicht zu der Anfang Dezember eröffneten Großschau nach St. Petersburg geschickt: aufgrund des damaligen Säbelrasselns in Weißrussland und damit verbundener Sicherheitsbedenken – Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. Auf ideologischer Ebene scheint das am Tag zwanzig des Krieges bereits Geschichte zu sein.

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Bühne: Gefallene Ikonen, verschobene Russland-Reisen

Oft im Duo auf den Bühnen der Welt, jetzt vorerst im Abseits: Starsopranistin Anna Netrebko (links) und neben ihr der Dirigent Valery Gergiev.
Foto: Imago

Zwei Ikonen der klassischen Musik, die als Hochkultur gern autokratisch missbraucht wird, standen bisher im Mittelpunkt der Boykott-Debatte: Die Sopranistin Anna Netrebko hatte sich nur halbherzig distanziert, gilt als Putin-nah und posierte in der Vergangenheit mit der Flagge prorussischer Separatisten. Sie sagte von sich aus all ihre Auftritte ab, dürfte aber früher oder später auf die Weltbühnen zurückkehren. Beim Dirigenten Valery Gergiev, noch enger an Putin dran, ist es anders: Er zog es vor, ganz zu schweigen, sich nicht einmal intern zu äußern, weswegen er seine Engagements in Mailand und München wohl zu Recht verlor.

Den richtigen Ton zu treffen gleicht hingegen derzeit einem Eiertanz. Salzburgs Festspielintendant Markus Hinterhäuser verwehrte sich zuletzt gegen "Anti-Putin-Tests" für Künstler oder Förderer russischer Herkunft. Zeitgleich bezieht man auf der Website doch Stellung: Man sehe "keine Grundlage für eine künstlerische oder wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Institutionen oder Einzelpersonen, die sich mit diesem Krieg, dessen Betreibern und deren Zielen identifizieren". Russische Sponsoren habe man keine, ein Gazprom-Deal fiel 2020 der Pandemie zum Opfer. Der 2013 gegründete Verein der russischen Festspielfreunde habe nur an die 15 Personen, die als Silver-Club-Mitglieder einen jährlichen Förderbeitrag von 10.000 Euro leisten.

Konflikte und Absagen

Im Sprechtheaterbereich waren es seit jeher vor allem auseinandersetzungswillige und somit keineswegs als regimetreu aufgefallene Künstler, die international präsent waren und auch bei den Wiener Festwochen oder den Salzburger Festspielen gearbeitet haben, etwa Konstatin Bogomolov, Evgeny Titov, Timofej Kuljabin. Oder eben der durch seine Verurteilung bekannt gewordene Moskauer Theaterleiter Kirill Serebrennikow, dessen hochgelobte Inszenierung "Der schwarze Mönch" übrigens seit Jänner am Thalia Theater Hamburg läuft.

Kolportiert wurde hingegen, dass der inzwischen nach Vilnius geflohenen russischen Festivalleiterin Marina Davydova ein Posten bei einem finnischen Theater abgesagt worden sein soll. Dies ist allerdings nicht bestätigt, Davydova vorerst nicht erreichbar.

Betroffen von Ausladungen sind vor allem staatsnahe Institutionen, allen voran das Bolschoi-Theater uns seine Ballettcompagnie, der Gastspieleinladungen im Sommer nach London und Madrid nun kurzfristig entzogen wurden.

Dirigenten uneins

Der Chefdirigent des Bolschoi, Tugan Sochijew, erklärte, er habe "schwierige Gefühle" ob der "Ereignisse", wollte sich zwischen dem Engagement in Moskau und jenem an der Oper Toulouse aber nicht entscheiden. Er legte beide Dirigate zurück. Seine Kollegen Vasily Petrenko und Thomas Sanderling hingegen verurteilten den Krieg deutlich, gaben ihre russischen Engagements auf und behielten ihre europäischen Posten.

Im Popmusikbereich sagen derzeit viele Bands – darunter auch die Osteuropa-Fans Rammstein – ihre Konzerte in Russland ab. Verständlich, denn weder wollen sie sich vor Ort unkritisch bejubeln lassen noch sich angesichts ihrer Verurteilung des Krieges Pfeifkonzerten oder möglicher Gefahr aussetzen.

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Architektur: Viel Geld, zu wenig Skrupel?

Der geplante Museums- und Theaterkomplex in Kemerovo, Russland, vom österreichischen Architekturbüro Coop Himmelb(l)au: Es baut auch auf der Krim.
Foto: Rendering Museum Kemerowo ©Coop-Himmelblau

Wo Geld ist, dort wird gebaut, am besten höher, glitzernder, spektakulärer. Das ist gerade auch in Ländern der Fall, die vom Westen unter anderem in puncto Menschenrechte scheel angesehen werden. Das Who’s who der internationalen Architekten hat in China oder Russland, wo Entscheidungen zentral und schnell getroffen werden, seit der Jahrtausendwende Bauten realisiert. Kritik perlte ab oder wurde mit dem Argument einer Geste für die Bevölkerung weggewischt.

Aufgrund der jüngsten Ereignisse stoppen viele Büros von Rang und Namen ihre russischen Projekte. Sie zeigen sich "schockiert" über die "Aggression" und beschwören "Solidarität". Ohne Anspruch auf Vollständigkeit haben bisher Zaha Hadid Architects, David Chipperfield und Norman Foster (baut für die Russian Copper Company), Herzog & de Meuron sowie MVRDV (Wohnhaus in Moskau) und Rem Koolhaas’ Büro OMA reagiert.

Keinen Kommentar gibt es nach wie vor vom Wiener Büro Coop Himmelb(l)au, das zurzeit Opernhäuser auf der Krim und in Russland baut und 2021 den Auftrag für eine Sportarena in St. Petersburg gewonnen hat. Anfang März wollte sein Chef Wolf D. Prix sich in der "Süddeutschen Zeitung" nicht distanzieren. Für den STANDARD war er nicht zu erreichen. Würde er neue Aufträge in Russland annehmen? Angesichts der Sanktionen (Geld, Material) ist Bauen dort derzeit aber wohl sowieso eher Theorie.

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Film: Kontroversen und Strategiefragen

US-Studios sagten als Teil eines Wirtschaftsboykotts ihre Filmstarts in Russland ab (hier "Batman"). Dabei kann man sich fragen, ob man nicht die Falschen vom Dialog der Ideen abschottet.
Foto: AFP

Der ukrainische Regisseur Walentyn Wassyanowytsch ("Atlantis") sprach sogar von der Notwendigkeit eines "kulturellen Vorhangs" – seit der Invasion Russlands häufen sich in der Ukraine die Boykottaufrufe gegen russische Filme und Künstler. Erst am Samstag hat das Molodist Film Festival in Kiew, eines der bedeutendsten in Osteuropa, nachgelegt. Kultur könne nicht von Politik getrennt werden, heißt es in dem offenen Brief, der einen internationalen Boykott verlangt: Selbst kritische Stimmen aus Russland betrachte man als "liberale Verlängerung einer schamlos (neo)kolonialen Politik".

Das sind harte Worte, die nicht nur die Betroffenheit über die gegenwärtige Lage wiedergeben. Tatsächlich findet man bereits seit 2014 in der Ukraine Positionen, die für die Abkapselung russischer Kultur plädieren.

Wann ist ein Film kritisch genug?

Das Ausmaß der Dissidenz eines Films bleibt jedenfalls schwer zu fassen: Geht man vom Gehalt des Werks aus, oder berücksichtigt man die Produktionsflüsse? Von den Großfestivals hatte sich bis jetzt nur Cannes zu einer Ausladung hinreißen lassen, gerichtet ist sie aber an eine offizielle russische Delegation, nicht per se an Filmschaffende.

Widersprüche rief auch die Haltung der Europäischen Filmakademie hervor, die nach erstem Zögern einen Boykottaufruf unterstützte. Der ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa trat daraufhin aus – einen Ausschluss kritischer Kollegen wolle er nicht unterstützen. US-Studios sagten unterdessen ihre Filmstarts in Russland ab. Das ist Teil eines Wirtschaftsboykotts. Doch auch dabei kann man sich fragen, ob man nicht die Falschen vom Dialog der Ideen abschottet.

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Literatur: Engagement und Empörungskurven

Deniz Yücel, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, einst selbst unter Recep Tayyip Erdoğan inhaftiert, stellt klar: "Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin."
Foto: AFP

Die Empörungsfronten verschoben sich kurz, als der PEN-Club der Ukraine und weitere literarische Institutionen des Landes einen Boykott aller russischen Literatur weltweit verlangten. Sie begründeten ihre Forderung damit, dass das "russische Narrativ" sich "durch kulturelle Produkte im Allgemeinen und Bücher im Besonderen" verbreite. Es drohe die Gefahr von Propaganda durch Literatur.

Das ist an sich möglich, genau deshalb tut hier Differenzierung aber not. Der Aufschrei war dementsprechend groß. Deniz Yücel, Präsident des deutschen PEN-Zentrums, brachte die Ablehnung der Forderung aus der Ukraine auf den Punkt: "Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin." Heißt: Zu einer Sippenhaftung russischer Autorinnen darf es nicht kommen. Sie könnte letztlich kritische Autoren in Russland demoralisieren.

Plattform für kritische Stimmen

Wohl aber ist man im Westen zum Boykott staatsnaher literarischer Institutionen Russlands bereit. Die Frankfurter Buchmesse hat bekanntgegeben, dass es einen russischen Länderstand auf der Messe heuer im Herbst nicht geben wird. Statt sich von unter der Fuchtel des Systems Putin stehenden Literaturagenturen etc. ein Programm kuratieren zu lassen, wird man in Frankfurt selbst tätig und will ausgewählten russischen Schriftstellerinnen eine Plattform geben.

Damit trifft man (zumindest) symbolisch das Regime Putins und schafft zugleich eine wichtige Bühne für oppositionelle und kritische russische Autorinnen und Autoren. Solche wenden sich indes an Russischsprechende weltweit, die Menschen in Russland über die wahre Lage zu informieren. PEN Austria sammelt "Stimmen gegen den Krieg".

(Stefan Weiss, Olga Kronsteiner, Michael Wurmitzer, Dominik Kamalzadeh, Margarete Affenzeller, 15.3.2022)