Es ist ein elendiges Gewürge. Selbst im Wiegetritt mit vollem Körpergewicht auf den Pedalen bewegt sich die Kurbel nur widerwillig. Mit jedem Meter auf dem steilen Sträßchen fällt die Geschwindigkeit tiefer in den gefährlichen Bereich.

Noch ein bisschen langsamer, und das Rad kippt mitsamt Fahrer auf den lombardischen Asphalt. Kratzer am teuren Carbonrahmen und an den Knien wären die Folge – ganz zu schweigen von den Wunden auf der Rennradfahrerseele. Trotzdem: Absteigen und schieben kommt nicht infrage!

Rennradfahrer gehören wie hier in Menaggio am Comer See überall zum Stadtbild.
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Die Muro di Sormano führt Körper und Geist an ihre Grenzen. Genau das war die Absicht von Vincenzo Torianni, der 1960 als Organisator der Lombardei-Rundfahrt diese nur knapp zwei Kilometer lange, aber bis zu 25 Prozent steile Abkürzung zwischen Sormano und der Passhöhe Colma di Sormano in die Strecke einbaute. Auch in den beiden Folgejahren musste sich das Feld beim Radsportklassiker die Mauer von Sormano hinaufquälen. "Dann weigerten sich die Fahrer, und die Muro wurde für 50 Jahre aus der Streckenführung gestrichen", erzählt Luca Negri im unteren, etwas weniger steilen Abschnitt.

Legendäre Überfahrt

Der 36-Jährige betreibt in Bellagio einen Radverleih am Ufer des Comer Sees. Zudem zeigt er als Guide rennradbegeisterten Gästen die schönsten Routen. Von denen gibt es hier genügend. Die Muro di Sormano zählt nach Lucas Geschmack nicht dazu und wird auch nur auf ausdrücklichen Gästewunsch in die Runde integriert. "Freiwillig fahre ich da nicht rauf", scherzt Luca.

Vor ein paar Jahren ist auf private Initiative hin der Straßenbelag der legendären Überfahrt am Südufer des Comer Sees erneuert worden. Seitdem ist jeder Höhenmeter mit weißer Farbe vermerkt – was die Tortur weder für Radprofis noch für Hobbysportler erträglicher macht. Es ist und bleibt schmerzhaft, wenn die Waden am Limit sind und der Kopf weiß, dass noch viele Höhenmeterangaben kommen werden. Steigt man jedoch oben keuchend vom Rad, macht ein Cappuccino auf der Panoramaterrasse das Leiden rasch vergessen. Die Muro di Sormano ist Radsportmythos.

Radelnde Pilger

Ähnliches gilt für die Wallfahrtskirche Madonna del Ghisallo im nahegelegen Magreglio. Das kleine Gotteshaus hat sich zur mythischen Pilgerstätte für Radsportverrückte entwickelt. 1948 hat Papst Pius XII. die Madonna del Ghisallo zur Schutzpatronin der Radsportler ernannt. Fausto Coppi, Gino Bartali, Francesco Moser, Marco Pantani und andere Heilige des italienischen Radrennsports haben seitdem Räder, Trikots, Trophäen und andere Devotionalien gespendet. Weil in der Kapelle selbst kein Platz mehr war, wurde 2007 gleich daneben ein Museum eröffnet.

Wallfahrtskirche Madonna del Ghisallo: eine Pilgerstätte für Radsportverrückte.
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Wer die 500 Höhenmeter von Bellagio zum Museo del Ciclismo stilecht mit dem Rad hinaufkurbelt, darf am Eingang seine Click-Pedal-Schuhe gegen gehfreundlichere Kunststoffpatschen tauschen. In dem lichtdurchfluteten Museumsraum erzählen Rennräder verschiedenster Epochen vom rasanten technischen Fortschritt.

"Die Schaltung Cambio Corsa von Campagnolo mit den beiden Hebeln an der Sattelstrebe war eine echte Revolution", erklärt Luca Negri mit leuchtenden Augen. Der Auskenner steht vor einem filigranen Rad, auf dem die italienische Legende Gino Bartali nach dem Krieg zahllose Siege eingefahren hat. "Bartali konnte am besten mit der Cambio Corsa umgehen. Das war einer der wichtigsten Gründe für seine Erfolge", meint Luca. Mit Blick nach vorne mussten die damaligen Helden der Landstraße zu den Schalthebeln in Richtung Hinterrad greifen und gleichzeitig kurz rückwärts treten. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele von Bartalis weniger geübten Mitstreitern dabei die Finger in die Speichen bekamen ...

Radfelgen aus Buchenholz

Nur wenige Kilometer vom Museo del Ciclismo entfernt trifft die Radsportvergangenheit auf die Gegenwart. In einer unscheinbaren Werkstatt fertigt Antonio Cermenati in dritter Generation Radfelgen an – aus Buchenholz. "Holz ist relativ leicht, besitzt aber eine hohe Steifigkeit und bietet einen besseren Fahrkomfort als Alu oder Carbon", erklärt Antonios Sohn Roberto dem verdutzten Besucher.

Das angenehme Klima, der glasklare See, die Berge und die unaufgeregte Atmosphäre machen den Comer See zu einem besonderen Ferienziel.
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Der Filius ist für das Marketing zuständig. Zur Kundschaft zählen Rennradfreaks aus der ganzen Welt, die ihrem Rad eine besondere Note geben wollen, berichtet Roberto. Er nimmt eine der erlesenen Cermenati-Felgen, die sich wie Hula-Hoop-Reifen überall in der Werkstatt stapeln, und reicht sie seinem Vater, der mit dem Schleifpapier die Feinarbeit vornimmt.

War der Anstieg wegen der Muro di Sormano eine Qual der allerschlimmsten Art, entwickelt sich die Abfahrt schnell zum Genuss. Der Freilauf schnurrt, und bald schon bieten die Haarnadelkurven grandiose Aussichten auf den Comer See, wie sie auch George Clooney gerne genießt.

Der Clooney-Blick

Kein Wunder, dass er hier rund elf Millionen Euro in die Villa Oleandra am gegenüberliegenden Ufer investiert hat. Luca Negri ist dem US-Schauspielstar jedenfalls ewig dankbar dafür, denn viele seiner Radgäste kommen aus den USA. Manche kennen den Comer See nur, weil ihr berühmter Landsmann dort eine Immobilie besitzt, und schließen daraus: Wo Clooney ein Haus hat, kann es so hässlich nicht sein.

Tatsächlich machen das angenehme Klima, der glasklare See, die Berge und die unaufgeregte Atmosphäre – sieht man von den touristischen Hotspots in Bellagio oder Varenna ab – den Comer See zu einem besonderen Ferienziel. Und wenn man es vorwiegend mit dem Rennrad erkundet, entgeht man meist auch den Menschenmassen.

Für den großartigen Ausblick auf den See, lohnt es sich abzusteigen.
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Dank der Fährboote, die die größeren Orte verbinden und meist Räder transportieren, bleibt man jederzeit flexibel – ein wichtiger Faktor bei der Tourenplanung. Denn die Uferstraßen sind nicht gerade verkehrsarm, wenngleich das die heimischen Rennrad-Ragazzi nicht zu stören scheint. In ihren todschicken Outifts rollen sie am Wochenende scharenweise am See entlang.

Komfortabel Höhe gewinnen

Wer auf eine der ruhigen Nebenstraßen abbiegt, die in die umliegenden Berge führen, wird belohnt. Ganz besonders gilt das für den Abstecher bei Varenna auf die Via per Esino, die sich 17 Kilometer lang zum Passo di Agueglio hinaufschlängelt. Dank der Serpentinen gewinnt man komfortabel an Höhe. Keine Spur von Qual.

Muss man tatsächlich anhalten, dann nicht weil die Beine brennen, sondern wegen der großartigen Aussicht auf den See. Es ist ein Anstieg mit knapp 1.000 Höhenmetern, auf denen kaum Autos oder Motorräder den meditativen Rhythmus aus Treten und Atmen stören. Mit jedem Meter steigt die Freude auf die Abfahrt. Auch die ist garantiert wieder mit Seeblick. (Roland Wiedemann, RONDO, 18.3.2022)