Während der Hauptnachrichtensendung des halbstaatlichen russischen Senders Kanal 1 ist am Montagabend eine Frau ins Bild gelaufen. Sie hielt ein Plakat in die Höhe, mit dem sie ein Ende des Krieges in der Ukraine forderte. Dazu rief sie auf Russisch: "Stoppt den Krieg! Glaubt nicht die Propaganda! Sie belügen euch hier!"

Kanal 1, der als eine der wesentlichen Propagandastützen des Kreml gilt, ist der meistgesehene Sender des Landes. Wie alle anderen Medien in Russland nennt er den russischen Einmarsch in die Ukraine eine "Spezialmilitärmission" – ihn als "Krieg" zu bezeichnen ist rechtlich untersagt.

Auf Twitter war die Protestierende bald als Marina Owsjannikowa identifiziert, die selbst bei dem TV-Sender gearbeitet haben soll.

Vor ihrer Aktion hatte Owsjannikowa ein Video aufgenommen, in dem sie ihre politische Position erklärt. Sie trägt darin eine Kette mit den Farben der Flaggen Russlands und der Ukraine und nimmt unter anderem Bezug auf die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014 sowie die Vergiftung des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny.

In dem Video erklärt sie, dass sie lange genug geschwiegen habe und sie sich schäme, selbst an der Verbreitung von "Kreml-Propaganda" in ihrem Job beteiligt gewesen zu sein. Ihr Vater sei Ukrainer, und sie könne nicht länger ruhig sein. Dieser Krieg müsse enden und die Russen dagegen auf die Straße gehen. "Nun hat sich die Welt von uns abgewandt. Zehn Generationen unserer Nachfahren können die Schande dieses Bruderkriegs nicht beseitigen", sagt Owsjannikowa. Sie rief außerdem zu Großprotesten auf. "Sie können nicht alle von uns ins Gefängnis werfen."

Nach ihrer Aktion wurde die Frau – und offenbar Mutter zweier Kinder – von der Polizei festgenommen. Der Anwalt Pawel Tschikow schrieb auf Twitter, dass ihr ein Bruch von Artikel 20.3.3 vorgeworfen werde. Sie habe militärische Zensur verletzt und die russische Armee diskreditiert. Verstöße gegen den neuen Artikel 20.3.3, der nach Kriegsbeginn eingeführt wurde, können mit drei bis 15 Jahren Haft geahndet werden.

Kanal 1 hat eine interne Untersuchung angekündigt, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Tass.

Offenbar berichten russische Medien über den Protest mit einem verpixelten Screenshot der Aktion – denn auf dem Plakat ist das verbotene Wort "Krieg" zu lesen.

In Russland herrscht im Zusammenhang mit dem Krieg strenge Zensur. Unabhängige Medien und Meinungen erreichen die Bevölkerung fast gar nicht mehr. Mehr als 15.000 Menschen wurden laut Schätzungen von Beobachtungsstellen bereits verhaftet, weil sie gegen den Einmarsch in die Ukraine protestiert hatten.

Vor allem russische Oppositionelle lobten Owsjannikowa für ihren Mut. "Was Mut wirklich bedeutet", twitterte der Pianist Igor Levit. Auch der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny begrüßte die Aktion. Seine Sprecherin Kira Jarmisch twitterte: "Wow, das Mädchen ist cool." Jarmisch lud das Video hoch, das sich in kürzester Zeit mehr als 2,6 Millionen Menschen ansahen. (red, APA, 14.3.2022)