Seine Mutter war gerade wach geworden und hatte ihre Medikamente genommen. Jewgenij Prjadko selbst schlief noch. Dann, gegen fünf Uhr am Montagmorgen, schreckte die Explosion auch ihn aus dem Schlaf. Die Druckwelle zerriss die Fenster in tausende Splitter. Der 47-Jährige blieb zunächst wie starr liegen, langsam erst sammelte er sich, so erzählt er.

Nur Stunden später steht Prjadko in der Tür zur Wohnung, in der er gemeinsam mit seiner Mutter lebte. Wasser tropft herab, zu seiner Rechten hat sich eine schwarze Pfütze gebildet. Unter seinen Schuhen knirscht es: Er steht auf einer dicken Schicht aus Scherben, die in der Wohnung und davor liegen und den Boden im ganzen Treppenhaus bedecken.
Schon als Kind hat er hier gelebt, hat seine Jugend hier verbracht. "Ich habe mein ganzes Leben hier gewohnt – und jetzt das", sagt Prjadko, ein stämmiger dunkelblonder Mann mit Bart und Bomberjacke. "Ich habe kein Zuhause mehr." Der Toningenieur zieht etwas abwesend an einer Zigarette. Er wirkt erstaunlich gefasst, und doch liegt in seinem Blick und seiner Mimik Schmerz. Seine Mutter, sagt er, sei ins Krankenhaus gebracht worden. Sie ist eine von zehn Personen, die verletzt wurden, als ein russisches Geschoß den Wohnblock in Obolon traf, einem Viertel im Norden Kiews.
Schwarze Löcher statt Wohnungen
Eine Person wurde nach Behördenangaben getötet. Mehrere Wohnungen wurden infolge des Beschusses fast pulverisiert. Die Fensteröffnungen in vier Stockwerken gleichen schwarzen Löchern. Etliche weitere Wohnungen wurden stark beschädigt.
Zu Beginn ihres Angriffskriegs gegen die Ukraine hoffte die russische Führung um Wladimir Putin allem Anschein nach auf einen Blitzsieg und eine schnelle Entmachtung der Regierung in Kiew. Doch auch nach bald drei Wochen leisten die Verteidiger der ukrainischen Hauptstadt heftigen Widerstand. Den Russen ist es noch immer nicht gelungen, die Metropole einzukesseln.
Trotz Mörser- und Raketenbeschusses und trotz des häufigen Heulens der Sirenen war Kiew zuletzt im Begriff, sich ganz sacht wieder aus der Schockstarre der ersten Kriegstage zu lösen. Die Straßen sind zwar noch immer leer, die Kontrollen und Barrikaden weiter zahlreich. Doch vor dem Bahnhof warten wieder Taxis, viele Supermärkte sind gut besucht, und Kinder trauen sich wieder auf Spielplätze.
Rückkehr? Vorerst ausgeschlossen
An eine Rückkehr zur Normalität können die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt dennoch nicht denken. Am Vormittag waren im Zentrum mehrere laute Explosionen zu hören. Kondensstreifen zogen sich durch den blauen Himmel. Die ukrainische Luftabwehr hatte russische Geschoße abgefangen. Am Abend knallte es dann erneut.
Die russischen Angreifer nehmen die Stadt weiter unter Artilleriebeschuss. Nach ukrainischen Angaben wurde das Gelände der für ihre Frachtmaschinen bekannten Antonow-Flugzeugwerke beschossen. Moskau teilte am Abend mit, dass das russische Militär im Antonow-Werk "ein großes Munitionslager für Mehrfachraketensysteme" zerstört habe.

Doch gleich zweimal waren am Montag Zivilisten die Leidtragenden. Es traf zwei Wohngegenden ohne jede militärstrategische Bedeutung: Neben dem Plattenbau in Obolon zerriss es beinahe eine ganze Straßenecke im wenige Autominuten entfernten Bezirk Kureniwka.
Trümmer einer abgefangenen russischen Rakete landeten unweit einer kleinen Gaststätte. Deren Innenraum wurde ebenso verwüstet wie die Wohnungen darüber, mehrere Geldautomaten nebenan und ein Auto davor. Ein grüner Trolleybus, der ebenfalls von Raketenresten getroffen wurde, glich einer zerdrückten Seven-up-Dose. Ein Mensch wurde getötet, ein halbes Dutzend verletzt, so die Angaben der Stadtverwaltung. Dass es nicht mehr waren, kommt einem Wunder nahe.
Überall Zerstörung
Zugleich sind im Nachgang der Attacken auch der Trotz und die enorme Widerstandsfähigkeit der Kiewer Bevölkerung zu beobachten. Gleich nach dem Feuerwehreinsatz im Wohnblock in Obolon beginnen Anrainer und Helfer damit, den Schutt beiseitezuschaffen. An der Straßenecke in Kureniwka fegen zwei ältere Frauen Haustrümmer zusammen, schnell, stoisch und effizient – als gelte es, den Angreifern die Botschaft zukommen zu lassen, dass sich diese Stadt nicht kleinkriegen lasse.
Wenige Meter entfernt steht ein stark beschädigter weißer Toyota. Die Windschutzscheibe ist zerborsten, die Seitenflügel zerbeult, der Kofferraum komplett zerstört. Daneben steht ein sportlicher Mann mit Brille, dunklem Bart, schwarzer Wintermütze und Homer-Simpson-Socken, die er über die Hose gezogen hat.
Das sei sein Auto, sagt Wolodymyr Wosnyk und wirkt dabei erstaunlich ausgeglichen, fast schon entspannt. Er ist Jurist im Staatsdienst, stammt aus der 150 Kilometer westlich gelegenen Stadt Schytomyr und lebt seit mehr als 20 Jahren in der Nachbarschaft. Es sei nur ein Auto, sagt er. "Hauptsache, man ist noch am Leben."
Auch bei der Frage, ob er Angst habe vor den nächsten Wochen, vor weiteren, heftigeren Angriffen der Russen, bleibt der 42-Jährige gleichmütig. "Es gibt nur eine Richtung: Wir werden gewinnen", sagt er. Die Ukrainer verteidigten ihr Zuhause. Ihnen bleibe keine andere Wahl. (Alexander Sarovic aus Kiew, 15.3.2022)