Im Gastblog sprechen Viktoria Pammer-Schindler und Franziska Gürtl mit der Philosophin Sonja Rinofner-Kreidl über digitale Interaktion.

Sonja Rinofner-Kreidl ist Professorin an der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie beschäftigt sich mit Phänomenologie, (Meta-)Ethik, Werttheorie, Theorie der Gefühle und Sozialphilosophie. Als Philosophin interessiert sie sich dafür, spezifische Fragestellungen in einem größeren Problemzusammenhang zu beleuchten. Offenkundig ist, dass Digitalisierung alltägliche Interaktionen und gesellschaftliche Organisationsformen verändert. Wie aber verändert sie uns selbst? Zum Beispiel unsere sinnlichen und intellektuellen Fähigkeiten, unsere Aufmerksamkeit und Sensibilität?

Digitale Interaktion ist eine reduzierte Form der Kommunikation

Eine Grundfrage, die sich laut Rinofner-Kreidl stellt, ist, worauf es in der Kommunikation eigentlich ankommt. "Wir neigen dazu, das sehr eng anzusetzen und lediglich auf die kognitiven Inhalte zu fokussieren, die wir vermitteln wollen. Kommunikation ist jedoch radikal inklusiv. Sie umfasst auch das Implizite und Emotionale, etwa wie begeistert jemand von den Inhalten ist, wie sehr sie sich mit diesen identifiziert. Kommunikation beruht auf einem vorausgesetzten gemeinsamen Hintergrund, einem sogenannten 'tacit knowledge'. In der digitalen Lehre stellen wir fest, dass der latente Abgleich von Verständnishintergründen ohne die geteilte sinnlich-leibliche Anwesenheit an einem Ort schwierig und oft nur eingeschränkt möglich ist. Wenn Sie in der Vorlesung am Pult stehen, sind sie über Mimik, Gestik, Blickkontakte, unwillkürliche Bewegungen mit den Zuhörenden verbunden. Sie 'sehen' buchstäblich, wenn jemand aus dem Gedankengang herausfällt, desinteressiert oder verwirrt ist. Im Digitalen geht dieser lebendige und reiche Kontakt verloren. Wir befinden uns in einer reduzierten Form von Kommunikation", sagt Rinofner-Kreidl.

Das zeigt sich auch an der Erschöpfung, in die man nach einem Online-Arbeitstag fällt. Es ist ganz anders, ebenso lange in Präsenz zu kommunizieren. Da bekommt man zwischendurch emotionale "Goodies" und erlebt es "hautnah" mit, wenn andere müde, unterschwellig gereizt oder aber inspiriert und agil sind. Wir ziehen Energie aus geteilter Lebendigkeit. "Ich vermute, dass uns Online-Kommunikation so anstrengt, weil all das wegfällt", stellt Rinofner-Kreidl fest.

Vor diesem Hintergrund sind Gewinn und Verlust digitaler Kommunikation abzuwägen. "Sollen wir uns an neue Technologien anpassen? Sollen wir das wollen? Das können wir nur entscheiden, wenn wir wissen, wie uns neue Technologien verändern. Hier hinken wir aber zwangsläufig hinterher. Selbsterkenntnis folgt, wenn überhaupt, nur nachträglich. Die neuen Technologien sind schon lange wirksam, während wir erst anfangen zu begreifen, was sie mit uns machen", sagt Rinofner-Kreidl.

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Mit Menschen nur virtuell zu kommunizieren, ermüdet sehr schnell.
Foto: REUTERS/Mike Blake

Der Leib begrenzt und definiert unseren Standpunkt in der Welt

Digitale Kommunikation ist immer auch entkörperlicht. Phänomenologinnen und Phänomenologen unterscheiden zwischen Körper und Leib. "Unser Leib ist nicht bloß ein Körper, das heißt ein Ding in Raum und Zeit. Er ist Träger unserer Erlebnisperspektive, mit der wir in allem Fühlen, Wahrnehmen, Handeln und Denken ‚verschmolzen‘ sind. Von unserem Leib können wir uns nicht räumlich distanzieren, so wie von einem beliebigen Ding. Deshalb können wir die Welt nicht aus einer völlig unbeteiligten, distanzierten Dritte-Person-Perspektive betrachten und verstehen. Sie ist uns nur aus der Erste-Person-Perspektive zugänglich. Der Leib begrenzt und definiert den Standpunkt, von dem aus mir die Welt erscheint und ich mit ihr interagiere", erläutert Rinofner-Kreidl.

Das bedeutet auch, dass leibliche und bewusste Wesen, wie wir es sind, sich selbst nicht vollständig objektiv wahrnehmen können. Deshalb ist soziale Interaktion auch für unsere Selbstwahrnehmung äußerst wichtig, sagt Rinofner-Kreidl: "Wenn es stimmt, dass ich mir selbst zum Teil intransparent bin, weil ich auch in der Wahrnehmung meines eigenen Leibes an meine Erlebnisperspektive gebunden bin, dann brauche ich die anderen, um mich selbst vollständig zu sehen. Man kann nur jemand bestimmter werden in Interaktion mit anderen."

Dieser philosophische Standpunkt wirft Fragen in puncto digitaler Interaktion auf. Zunächst führt er dazu, darüber nachzudenken, was in der digitalen Interaktion wegfällt. "Wir sehen andere nur mehr ausschnitthaft, und haben die unmittelbare Wahrnehmung ihrer Leiblichkeit nicht mehr. Was heißt es für die Entwicklung unserer Selbstwahrnehmung, wenn wir von anderen nur mehr als digitale Ausschnitte gesehen werden?" fragt Rinofner-Kreidl. Diesbezüglich ist auch auf die jüngere Emotionsforschung zu verweisen, die etwa der Frage nachgeht, ob Empathie künstlich erzeugt werden kann und wie nahe Interaktionen mit intelligenter Technologie, die Empathie simuliert, an nicht-maschinelle Formen menschlicher Interaktion herankommen.

Im Internet stehen unendlich viele Räume und Möglichkeiten offen

Unsere Leiblichkeit verankert uns im Raum-Zeit-Kontinuum. Sie bindet uns an begrenzte Situationen. Demgegenüber stehen uns in der digitalen Welt in jedem Moment unendlich viele Räume offen, zwischen denen wir nach Belieben wechseln können.

"Die vielen möglichen Räume im Internet produzieren dauernd Entscheidungsprobleme. Ich muss unentwegt Bewertungen vornehmen, was relevant ist und was nicht. Erst wenn diese kognitive Arbeit getan ist, kann ich mich der zentralen Frage zuwenden, was richtig oder falsch ist", erklärt Rinofner-Kreidl. Das bloße Bestehen von Optionen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich in Anspruch genommen werden oder nicht, verändert die Gesamtlage und erzeugt Entscheidungszwänge, die es in nicht-digitalen Zeiten nicht gab. "Wir müssten uns eigentlich systematisch als Entscheider schulen, damit wir solche Entscheidungen nicht nur zufällig treffen", meint Rinofner-Kreidl.

Unbegrenzte digitale Räume und Möglichkeiten zu nutzen, bringt noch andere Probleme mit sich: Ideenflucht, Unkonzentriert-Sein und Aufmerksamkeitsdiffusion – eine Zerstreutheit, die Erfahrung, gleichzeitig bei nichts und bei allem zu sein. Rinofner-Kreidl interessieren diese mentalen Zustände auch vor dem Kontrast jener geistigen Haltungen, die in der Philosophie eingeübt werden: "Wenn Sie sich auf die Philosophie einlassen, müssen Sie eine tiefe Leidenschaft für Ideen und umfangreiche Lektüren haben. Wenn Sie sich etwa vornehmen, Husserls 'Logische Untersuchungen' oder Kants 'Kritik der reinen Vernunft' zu lesen, haben Sie nicht nur zwanzig Seiten, sondern viele hundert Seiten vor sich. Dazu brauchen Sie Konzentration, Beharrlichkeit und Freude daran, komplexe gedankliche Zusammenhänge nachzuvollziehen. Hier befinden wir uns am anderen Ende des Spektrums: Es geht nicht um oberflächliche Erregung oder Informiertheit, sondern darum, sich in Begriffe, Argumente und eine umfassende geistige Architektur zu vertiefen."

Man kann Kants "Kritik der reinen Vernunft" nicht twittern, und auch nicht in fünf Sätzen zusammenfassen. "Diese Fähigkeit und dieser Wunsch, Dinge nicht einfach auf den ersten Anblick so zu nehmen, wie sie scheinen, sondern sie in ein Ordnungsgefüge zu stellen und sie durch Differenzierung verstehen zu wollen, ist ein Kulturgut", führt Rinofner-Kreidl aus. Möglicherweise beeinträchtige das Ausmaß des digitalen Kommunizierens diese Fähigkeit. Zumindest sollte die Frage aufgeworfen und immer wieder in Erinnerung gerufen werden: was wir sein und werden wollen, wozu wir uns selbst durch das, was wir tun, machen wollen. (Viktoria Pammer-Schindler, Franziska Gürtl, Mia Bangerl, Bernhard Wieser, 17.3.2022)