Mal steht sie still, mal verfliegt sie: Die Zeit wird höchst individuell wahrgenommen.

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Die Erfassung der Zeit ist ein hochkomplexes Terrain, an dem sich eine Vielzahl von Denkerinnen und Denker stoßen. Ist sie in der Physik präzise definiert, so misst Zeit letztendlich das, was uns die Uhr anzeigt. Diese Begriffsbedeutung ist als Ordnungs- und Strukturinstrument hilfreich. Wenn Menschen allerdings nach ihrem subjektiven Zeitempfinden befragt werden, antworten sie intuitiv: Mal vergeht sie wie im Flug, mal scheint sie erstarrt.

Dieses Empfinden hängt davon ab, wie viel Aufmerksamkeit der Zeit zuteilwird. Sind bestimmte Tätigkeiten besonders vereinnahmend, verrinnt die Zeit gefühlt schneller – Expertinnen und Experten sprechen vom Flow-Erleben. Während Kindern die Vergangenheit kurz und die Zukunft unaufhörlich lang vorkommt, ist das bei älteren Erwachsenen umgekehrt. "Die Menge an der im Gedächtnis gespeicherten Information wird mit dem Erlebten in Relation gesetzt", erklärt der Psychologe Ulrich Ansorge von der Universität Wien.

Psychologisches Zeitempfinden

Die aktuell erlebte Information werde im Verhältnis zu dem, was bereits akkumuliert wurde, immer kleiner. Das erklärt, weshalb die Zeit unter physiologischer oder emotionaler Erregung wie in Slow Motion vergeht. Sekunden vor einem potenziellen Unfall etwa sind Menschen besonders aktiviert, damit sie Wahrnehmungen schneller verarbeiten und besser reagieren können.

Einen Sinn für Zeitwahrnehmung per se besitzt der Mensch nicht. "Wir haben jedoch eine Reihe von Zeitabhängigkeiten, als Anpassung an die sich im Tagesrhythmus ändernden Umweltbedingungen entstand beispielsweise unsere zirkadiane Rhythmik", sagt Ansorge. Untersuchungen mit Menschen, die über längere Zeit in abgeschirmten Räumen lebten, zeigen eine zeitliche Regelmäßigkeit in den Verhaltensweisen auf.

Die Teilnehmenden standen regelmäßig auf, gingen ebenso regelmäßig schlafen und haben das Gefühl, normale Tage zu durchleben – welche allerdings deutlich länger andauern als ein realer Tag. "Auch diverse physiologische Rhythmen stellen in gewisser Weise zeitliche Prozesse und die Grundlage für bestimmte Koordinationsfähigkeiten dar", sagt Ansorge.

"Denken Sie nur an die rhythmische Aktivität des Herzmuskels oder das Fundament unserer geistigen Verarbeitung, das Gehirn." Die Taktgeber für unsere Hirnwellen sind die Alpha-Oszillationen. Die rhythmischen Schwingungen in der Hirnaktivität beeinflussen maßgeblich unsere Aufmerksamkeit und weitere geistige Fähigkeiten.

Gesellschaftlicher Wandel

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte eine intensivierte Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen und vergleichenden Zeitanalysen ein. Im Zuge dessen rückte der Wandel gesellschaftlicher Zeitverhältnisse in den Forschungsfokus. In modernen Gesellschaften ist häufig von einer fortschreitenden Beschleunigung des sozialen Lebens die Rede. Seit dem 18. Jahrhundert lässt sich diese in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen beobachten.

Die Grundbedingungen des Lebens und Handelns nehmen an Stabilität ab, Menschen sind mit sich rascher verändernden Verhältnissen konfrontiert, auf die sie sich kontinuierlich neu einstellen müssen. Eine Konsequenz dieser Entwicklungen ist eine Tendenz, die Menge von Erlebtem systematisch zu erhöhen – was sich in Trends wie Fastfood, Speed-Dating oder Power-Naps äußert.

Dieser "Beschleunigungszirkel" wird durch einen allumfassenden sozialen Wettbewerb angetrieben. Der Soziologe Hartmut Rosa führt das auf den Leistungsdruck unter dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zurück.

Ungewisse Zeitstrukturen

In Hinblick auf das subjektive Zeiterleben bestünden im Alltag zunehmend ungewisse Zeitstrukturen betreffend Sozialität, Identität und Befinden. Individuen erhalten zwar mehr Chancen für individuelle Gestaltungsspielräume, es sind aber auch größere Planungsunsicherheiten, potenzielle Desorientierung und Destabilisierung von Identitätsbildern feststellbar.

In Hinblick auf diese sich verändernden sozialen Bedingungen liegt der Schluss nahe, dass die gesellschaftliche Beschleunigung negative Auswirkungen auf die Gehirnleistung hat. Doch Ansorge relativiert: "Ich glaube, wie lange und wie gut man sich auf Gegenstände konzentrieren kann, hat generell nicht gelitten. Es sind eher die schiere Menge an unterschiedlichen Aufgaben und die damit verbundenen Anpassungsnotwendigkeiten, die uns quasi die Zeit stehlen."

Die menschlichen Kapazitätsgrenzen seien sehr universal, und der technische Wandel habe sie nicht weiter herabgesetzt. Unser geistiges Fassungsvermögen werde nur anderweitig genutzt. "Wir stecken in mehreren Projekten gleichzeitig. Das ist der Einfluss von Netzwelten – es besteht eine immense Anpassungsnotwendigkeit", sagt Ansorge. Dabei komme bei vielen Menschen das Gefühl hoch, nicht gut oder schnell genug zu sein. Jeder Mensch benötige aber mehr und minder dieselbe Adaptionszeit.

Wertvolle Ressource

Insbesondere die Corona-Krise hat massive Veränderungen im Lebensalltag der meisten Menschen mit sich gebracht und in vielen Bereichen zu Neubewertungen geführt. Das lässt sich auch in Hinblick auf die Ressource Zeit feststellen. Zwar war die Work-Life-Balance schon vor der Pandemie ein zunehmend gebrauchter Begriff, doch häufig erschien es unmöglich, an eingebürgerten Arbeitszeitmodellen zu rütteln. Die durch Corona verursachte Zwangspause, die sich speziell im ersten Lockdown in Kurzarbeit äußerte, hat zu einer Neuorientierung in puncto Lebenszeit geführt.

Der Möglichkeit, seine Zeit wieder frei zu gestalten, wird seither ein höherer Wert verliehen. So steht etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung einer Verkürzung der eigenen Arbeitszeit positiv gegenüber, wie aus Umfragen des Austrian Corona Panel Project hervorgeht. Drei von zehn Befragten wollen ihre Wochenarbeitszeit um mehr als einen Arbeitstag reduzieren. Die erlebte Arbeitszeitveränderung seit dem Lockdown entspricht vielfach dem, was sich die unter Druck geratene Bevölkerung und einem permanenten Anpassungsdruck unterliegende Menschen auch für ihre Zukunft wünschen. (Julia Dvorin, 21.3.2022)