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Der 1769 in Wien konstruierte "Schachtürke" war ein vermeintlicher Schachautomat, der um die Welt reiste.

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Der "Schachtürke" ist weit gereist, doch die Türkei sah er nie. Er ist ein geborener Wiener. Zur Welt kam er 1769 in Schönbrunn. Sein Ende fand er 1854, hochbetagt und fast vergessen, bei einem Großfeuer in Philadelphia.

Er brannte gut, bestand er doch aus Holz. Sein Schöpfer war Wolfgang von Kempelen, ein kaiserlicher Hofbeamter, der Maria Theresia mit einem lebensgroßen Schachautomaten unterhalten wollte. Die Figur saß hinter einem Schreibtisch, auf dem ein Schachbrett lag, und spielte stets mit den weißen Figuren. Der Schachtürke gewann fast alle Partien. Nach einem gegnerischen Zug bewegte er den Kopf, blickte über das Brett und führte mit der linken Hand seinen nächsten Spielzug aus – das Ganze begleitet von mechanischem Surren und Knarren.

Vom Schachtürken zu AlphaZero

Der Schachtürke wurde zur Sensation. Baron von Kempelen reiste jahrelang mit ihm durch Europa. Vor jeder Vorführung öffnete er die Fächer des Schreibtisches, eines nach dem anderen, und durchleuchtete sie. Die Zuschauer konnten Walzen, Schnüre und Schläuche erkennen. Allzu nahe durften sie nicht.

Natürlich verbarg sich ein Mensch in der Maschine. Es war eng im Schreibtisch und heiß: Alles Licht kam von einer Kerze. Manchmal stieg Rauch aus dem Turban. Die Partie gegen Philidor, den französischen Schachmeister, verlor der Schachtürke nur knapp. Der preußische König bot viel Geld, um hinter das Geheimnis zu kommen, und zeigte sich dann enttäuscht.

Nach von Kempelens Tod kam der Schachtürke in den Besitz des Wiener Hofkammermaschinisten Mälzel. Dieser Mälzel war Erfinder von Musikautomaten, noch heute bekannt für sein Metronom. Bald konnte sein Apparat sogar "échec" sagen – Schach.

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Der britische Logiker und Mathematiker Alan Turing (1912–1954) war der wichtigste Theoretiker der frühen Entwicklung von Computern. Er beschäftigte sich auch mit künstlicher Intelligenz.
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Wieder ging der Schachtürke auf jahrelange Tourneen, darunter mehrmals nach Amerika. Der Schriftsteller Edgar Allan Poe schrieb einen Aufsatz über "Mälzels Schachspieler". Da dieser manchmal, wenngleich nur selten, eine Partie verlor, folgerte Poe, dass ein Mensch dahinterstecken müsse: Denn eine Maschine, die Schach spielen kann, würde immer gewinnen. Das war ein Trugschluss, aber Poe traf ins Schwarze. Wir kennen die Namen einiger der Spieler, die sich in den Schachtürken hineingezwängt hatten. Irgendwann hörte der Apparat dann auf, eine Jahrmarktattraktion zu sein, und wurde von einem Museum in Philadelphia erworben, wo es schließlich zum Unglücksfall kam.

Die ersten echten Schachautomaten stammen aus den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, und erst 1997 wurde ein Schachweltmeister besiegt: Kasparow unterlag Deep Blue. Es war ein Meilenstein für die künstliche Intelligenz. Heute ist ein solcher Wettbewerb witzlos geworden, wie ein Rennen Mensch gegen Motorrad. Automaten wie AlphaZero spielen in einer Liga für sich.

Heiliger Gral für KI

Der Mathematiker Alan Turing war Erste, der ein Computerprogramm für Schach schrieb. Er nannte es "Turochamp". Etwa zur selben Zeit legte er auch die Grundlagen zur künstlichen Intelligenz. Allein zu erkennen, dass es nicht dasselbe ist wie ein Schachprogramm, war für damals bemerkenswert. Auf die Frage, ob Maschinen denken können, wollte sich Turing nicht einlassen.

Aber er schlug einen Test vor, um zu ermitteln, ob ein Computer Menschen imitieren kann. Das war sein "imitation game" (später Titel eines Films über Turing). Eine Jury führt über Fernschreiber Konversation mit zwei Unbekannten: Einer ist ein Mensch, der andere ein Computer, und beide geben sich als Mensch aus. Die Maschine verhält sich intelligent, sagt Turing, wenn sie das Spiel so oft gewinnt wie der Mensch. Sein Test wurde zum Heiligen Gral der künstlichen Intelligenz.

Der Schachtürke und der Turing-Test sind spiegelverkehrt. Hier versucht sich ein Mensch als Automat auszugeben, dort ein Automat als Mensch. In beiden Fällen darf man zu Tricks greifen, um hinter die Wahrheit zu kommen.

Verbotener Schachzug

Napoleon zum Beispiel versuchte es mit einem verbotenen Schachzug. Der Schachtürke stellte die Figur kommentarlos auf ihren Platz zurück. Napoleon versuchte es nochmals, und jetzt wischte der Schachtürke mit einer steifen Armbewegung alle Figuren vom Brett. (Die folgende Partie, die regulär verlief, verlor Napoleon in neunzehn Zügen.) Beim Turing-Test könnte man ebenso versuchen, den Computer aufs Glatteis führen, etwa indem man ihn kopfrechnen lässt. Ein wohlpräparierter Computer darf da natürlich nicht allzu flott sein.

Turing konnte den Computer als sein Baby betrachten, gezeugt 1935 in Cambridge. In einer Vorlesung über die Grundlagen der Mathematik hatte der 23-jährige Student vom "Entscheidungsproblem" des legendären deutschen Mathematikers David Hilbert gehört. Gibt es ein systematisches Verfahren, um für jede mathematische Frage zu entscheiden, ob sie gelöst werden kann oder nicht?

Im Wien des Jahres 1930 hatte der junge Kurt Gödel gezeigt, dass es in der Arithmetik wahre Sätze gibt, die nicht bewiesen werden können. Aber die Frage blieb: Lässt sich durch ein systematisches Verfahren herausfinden, was bewiesen werden kann und was nicht?

Was ist ein systematisches Verfahren, überlegte Turing. Wohl etwas, das wie eine Rechnung abläuft. Aus 223 + 219 wird 442. Ein Input wird zu einem Output (beides Ketten von Zeichen auf einem Streifen Papier). Die Zeichen müssen keine Ziffern sein, die Zwischenschritte keine Additionen. Wichtig ist nur, dass jeder Schritt durch vorgegebene Regeln genau festgelegt ist, ohne die geringste Zweideutigkeit, ganz mechanisch. Geistlos eben: wie eine Maschine tickt.

Turing-Maschine

Was darf die Maschine tun? Sie hat einen Schreib-Lese-Kopf, unter dem die Felder des Papierstreifens entlanggleiten; und sie hat einen "inneren Zustand". Je nach gelesenem Zeichen und innerem Zustand macht die Maschine dann etwas: Sie ersetzt das Zeichen auf dem Papier durch ein anderes, sie ändert ihren inneren Zustand, sie rückt den Streifen um ein Feld nach links oder rechts. Dann liest sie wieder ein Zeichen, und so geht es fort. Wenn der Streifen anhält, ist das, was darauf steht, der Output. Solche "Maschinen" wurden bald Turing-Maschinen genannt.

Innerhalb der Mathematik waren sich sofort alle einig: Ein "systematisches Verfahren" ist genau das, was eine Turing-Maschine tun kann. Es ist übrigens das, was damals die Büroangestellten taten, die man im Englischen "Computer" nannte (meistens Frauen). Hier ahmte also eine Maschine nach, wie Menschen rechnen – auch das ein "imitation game". Nur Kaffeepausen gab es keine.

Nun der entscheidende Schritt. Turing erkannte, dass es universelle Turing-Maschinen gibt: solche, die jede andere Turing-Maschine nachahmen können. Denn diese andere Turing-Maschine hat ja ein Programm (ihre inneren Zustände). Man braucht es nur so zu codieren, dass die universelle Turing-Maschine es auf dem Papierstreifen ablesen kann, als zusätzlichen Input, und alle Schritte der anderen Maschine übernimmt. Wieder ein "imitation game": Eine universelle Turing-Maschine ist imstande, jede Turing-Maschine nachzuahmen.

Visitenkarte

Man wird annehmen dürfen, dass eine solche universelle Turing-Maschine, die jedes beliebige Programm speichern und ausführen kann, ungeheuer komplex sein muss. Keineswegs. Die Visitenkarte von Alvy Ray Smith ist eine universelle Turing-Maschine (siehe Bild). Man kann damit alles berechnen – zum Beispiel die Bahn einer Rakete zum Mars. Allerdings wird es den Mars längst nicht mehr geben, wenn die Rechnung beendet ist. Schnell sind universelle Turing-Maschinen nicht. Und zunächst waren sie rein gedankliche Konstrukte – Hirngespinste.

Die Visitenkarte von Alvy Ray Smith (nach einer Idee von Y. Rogozhin) ist eine universelle Turing-Maschine, die jedes Programm ausführen kann – mitunter kann die Berechnung aber einige Zeit in Anspruch nehmen.
Foto: Alvy Ray Smith / alvyray.com

Das Erste, was Turings Universalmaschine löste, war das Entscheidungsproblem. Es gibt wohlbestimmte Ja-nein-Fragen, die kein systematisches Verfahren beantworten kann. Zum Beispiel das Halte-Problem (das übrigens nicht von Turing stammt): gegeben eine Turing-Maschine und ein Input. Liefert die Maschine einen Output (also bleibt sie irgendwann stehen)? Es gibt kein Verfahren, um diese Frage zu entscheiden.

Damit ist Hilberts Vermutung widerlegt. In der Mathematik gibt es kaum einen höheren Ruhm, als ein Problem von Hilbert zu lösen. Nach einem Jahr harter Arbeit zeigte Turing seinem Professor die Lösung – und erfuhr, dass er damit nicht der Erste war. Ein junger US-Amerikaner namens Alonso Church war ihm um ein paar Monate zuvorgekommen.

Geheimcode knacken

In der Wissenschaft gibt es üblicherweise keine Silbermedaille. Allerdings war Turings Arbeit so originell, dass sie doch veröffentlicht wurde. Das Entscheidungsproblem trat darin nur beiläufig auf. Die Turing-Maschine selbst (den Namen schlug Church vor) übernahm die Hauptrolle. Turing reiste nach Princeton und schrieb seine Doktorarbeit bei Church. Der große John von Neumann bot ihm eine Stellung am Institute for Advanced Study an.

Turing lehnte dankend ab und fuhr nach England zurück. Er hatte einen Termin beim britischen Geheimdienst. Am Tag des Kriegsausbruchs traf er in Bletchley Park ein und ging daran, deutsche Geheimcodes zu knacken. Es gelang mithilfe riesiger elektronischer Rechenanlagen. In den Nachkriegsjahren wurden aus diesen hochspezialisierten Kolossen diesseits und jenseits des Atlantiks die ersten speicherprogrammierten Computer: universelle Turing-Maschinen mit Von-Neumann-Architektur, damals wie heute.

Gedankenexperiment

Zur selben Zeit, als sich Turing mit elektrischen Relais und Radioröhren plagte (der Transistor war eine Zukunftshoffnung) und das erste Handbuch für Programmierer schrieb (mit den ersten Programmierfehlern), machte er sich bereits Gedanken zur künstlichen Intelligenz und entwarf seinen Turing-Test. Um ihn zu erläutern, gebrauchte er ein Gedankenexperiment: Am anderen Ende des Fernschreibers seien nicht ein Mensch und eine Maschine, sondern ein Mann und eine Frau, die sich beide als Frau ausgeben. Ein Spiel mit Geschlechterrollen also.

Turing hatte nie verheimlicht, dass er an Männern mehr Gefallen fand als an Frauen. 1952 schritt die Polizei ein. Er wurde festgenommen und verurteilt: ein Jahr Gefängnis, oder Hormonbehandlung. Turing entschied sich für Letzteres. Dem durchtrainierten Sportler wuchsen Brüste.

Eines Morgens fand seine Haushälterin den 42-Jährigen tot im Bett. "Selbstmord durch Gift", lautete der Befund; aber vieles blieb unklar. Knappe sechzig Jahre später bedauerte die britische Regierung das Unrecht, dass sie Turing angetan hatte, und sorgte für einen Royal Pardon.

Und der Test? Er ist heute noch offen. Aber vielleicht ärgert Sie manchmal beim Ausfüllen eines Online-Formulars ein Captcha. Das Wort steht für "Completely Automated Public Turing Test to Tell Computers and Humans Apart". Hier stellt ein Automat fest, ob er es mit Menschen oder Maschinen zu tun hat. Auch das wird der Computer bald besser können als wir. (Karl Sigmund*, 16.3.2022)