Die ukrainische Nation ist nicht nur eine intellektuelle Idee, sondern etwas, dessen Existenz die Menschen durch ihren täglichen gemeinsamen Einsatz beweisen.

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Jede gesellschaftliche Krise sucht sich ihre Stimmen. Hatten sich mit der Pandemie die Blicke auf Virologinnen und Virologen gerichtet, wendet sich infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine die öffentliche Aufmerksamkeit anderen Expertinnen und Experten zu. Neben jenen für Militärstrategie und Waffensysteme, die angesichts eines zuvor kaum vorstellbaren Krieges in Europa gefragte Gesprächspartner wurden, sind es Historikerinnen und Historiker, die die öffentliche Debatte bestimmen.

Das ist nicht überraschend, handelt es sich doch um einen Krieg um die Geschichte. Die gewaltsame Aggression gegen ein friedliches Nachbarland, bei der von vornherein und unabhängig vom Ausgang kein wie auch immer gearteter militärisch-strategischer Nutzen zu erkennen war, wurde von Wladimir Putin und der russischen Führung mit abstrusen historischen Konstruktionen gerechtfertigt.

Bloßstellung von Putins Verfälschungen

In den Augen Timothy Snyders von der Yale University, der sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte Osteuropas und der Ukraine beschäftigt, tragen diese Vorwände in besonderer Weise zum Schrecken des Krieges bei: "Weil es für die Invasion keine Rechtfertigung gibt, macht jeder Rechtfertigungsversuch sie nur noch schlimmer und fügt ihr weiteren moralischen Horror hinzu."

Snyder saß am Freitag mit seinem ukrainischen Fachkollegen Serhii Plokhy, Professor an der Harvard University, auf dem Podium des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, um über den "Krieg in der Ukraine und universelle Werte" zu sprechen. Dem Moderator Philipp Blom und den Diskutanten war es dabei ein Anliegen, nicht zu lange bei der Diskussion von Putins Geschichtsverdrehung zu verweilen.

Zwar wurden im Laufe der Diskussion einige seiner Verfälschungen bloßgestellt. So habe nicht Russland die Ukraine geschaffen, indem sie von Lenin preisgegeben wurde – vielmehr habe umgekehrt eine schon zuvor bestehende ukrainische Nationalbewegung die Sowjetunion zu einer föderalen Struktur gezwungen, wie Plokhy erläuterte.

Keine gleichrangigen Interpretationen

Doch eine weitergehende, Satz für Satz Putins Behauptungen kommentierende historische Auseinandersetzung droht sie eher noch zu legitimieren und als bedenkenswert erscheinen zu lassen, argumentierte Snyder. Nichts jedoch wäre ferner von der Wahrheit, als zu meinen, man hätte es mit zwei gleichrangigen, auf Augenhöhe miteinander konkurrierenden Interpretationen der Geschichte zu tun.

Nach Snyder handelt es sich bei der Geschichtsvision Putins um eine im Kern faschistische Sichtweise. Ihm gehe es darum, eine imaginierte ursprüngliche Einheit Russlands wiederherzustellen, die von äußeren Feinden zerstört worden sei. Wie einst Hitler bezeichnet er seine Nachbarn darum als künstliche, artifizielle Gebilde, die keine Existenzberechtigung hätten. Die ukrainische Sicht stehe dem nicht einfach als Gegenentwurf gegenüber, sondern verlaufe quer zu ihr. Sie sei keine Widerlegung, sondern verkörpere einen grundsätzlich anderen Modus der Artikulation.

Aggression gegen europäisches Gedächtnis

Snyder kam dabei auf das Pathos der Reden Wolodymyr Selenskyjs vor den Bürgerinnen und Bürgern seines Landes und westlichen Parlamenten zu sprechen, das gerade deshalb die Gemüter erreicht und angemessen erscheint, weil er in Kiew geblieben ist und sein Land Widerstand leistet: "Wahrheit ist etwas, für das man bereit ist ein Risiko einzugehen."

Analog bewiesen die Ukrainer die Existenz ihrer Nation eben nicht durch einen nationalen Mythos, sondern durch tagtägliches Füreinandereinstehen.

Der Angriffskrieg Russlands sei dabei nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern auch eine "Aggression gegen das europäische Gedächtnis", sagte Snyder. Mit seinen Kriegsvorwänden pervertiere Putin historische Konzepte wie "Genozid", "Nazi" oder "Kriegstribunal". Weil sie die Lehren verkörperten, die man aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen habe, versuche er so mithin die normativen Grundlagen der westlichen-demokratischen Staatenordnung zu unterhöhlen.

Schwierige Transformationsphase Russlands

Es sei darum an der Zeit, dass die EU beweise, dass sie als Friedensprojekt noch immer jene Lehren des Zweiten Weltkriegs verkörpere, weswegen sie der Ukraine die Mitgliedschaft anbieten solle. Erst ihr Widerstand habe Europa die Gelegenheit gegeben, sich seiner Werte neuerlich zu versichern und auf die russische Invasion geschlossen zu reagieren.

Neben der Vergangenheit wurde so auch die Zukunft ein Thema der Diskussion. Russland sahen Plokhy und Snyder in einer schwierigen Transformationsphase, die von einer schleppenden Resignation und imperialen Ambitionen gekennzeichnet ist, die nationalistischen Strömungen Auftrieb verleiht.

Eine "russische Normalität" sei nach Snyder so lange nicht möglich, als Putin das Land als "imperialistische Traumvorstellung" sehe, die darauf hinauslaufe, die Nachbarn auslöschen zu müssen – und sich so gar der eigenen Zukunft beraube: "Indem man seine eigene Identität darauf begründet, jemand anderen zu zerstören, scheitert man auch daran, sich selbst zu erschaffen."

Zukunft der Ukraine

Was die Zukunft seines eigenen Landes betrifft, wusste Plokhy trotz aller Verwerfungen durch den russischen Angriff mit Hoffnung auf die Zukunft der Ukraine zu blicken. Denn der Krieg, der unter Vorwänden begonnen worden sei, die die Existenz einer ukrainischen Nation verleugneten – auf russischer Seite habe man davon gesprochen, die ukrainische Frage ein für alle Mal zu lösen –, werde auf lange Sicht die Existenz einer ukrainischen Nation auf beispiellose Weise bestärken.

Denn anders als in früheren Epochen sei sie jetzt nicht nur eine Idee der Intellektuellen, für die sich Menschen bei Wahlen entschieden – sondern etwas, das sie mit ihrem eigenen Leben zu verteidigen bereit seien. Die Ukraine sei dabei keine durch eine bestimmte Ethnie, Sprache oder Kultur definierte Nation.

Schon bei der russischen Aggression 2014 sei es zu einer Vereinigung über solche Grenzen hinweg gekommen – wie sich nun etwa daran zeigt, dass auch russischsprachige Ukrainerinnen und Ukrainer in den verwüsteten Städten im Osten des Landes mit blau-gelben Flaggen gegen die Besatzungskräfte demonstrieren. Menschen in der Ukraine, von denen Putin offenbar glaubte, sie würden ihn mit offenen Armen empfangen. (Miguel de la Riva, 16.3.2022)