Die TV-Redakteurin Marina Owsjannikowa stürmte die Nachrichten: "Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen."

AFP/HANDOUT

Diesen Auftritt hatten die Zuschauer der abendlichen Hauptnachrichtensendung "Wremja" ("Zeit") des russischen staatlichen Ersten Kanals nicht erwartet: Just in dem Moment, als die langjährige Kreml-Propagandistin Jekaterina Andrejewa ausführte, wie die russische Regierung auf die westlichen Sanktionen reagiert, tauchte hinter ihr eine Redakteurin mit einem Antikriegsplakat auf.

Auf Englisch und Russisch hatte sie unter anderem "Stoppt den Krieg", "Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen" und "Die Russen sind gegen den Krieg" geschrieben. Dazu rief sie immer wieder "Nein zum Krieg, stoppt den Krieg", ehe die Regie hastig den nächsten Nachrichtenclip einblendete.

Die Heldin der Stunde heißt Marina Owsjannikowa. Ihr Auftritt hat gewaltige Bedeutung, denn schlagartig hat er einer großen Menge bewusst gemacht, dass es selbst innerhalb der Propagandaorgane des Kreml Widerstand gegen den aktuellen Kurs gibt.

Selbstkritik

Noch vor ihrer Aktion begründete die 44-Jährige ihre Tat in einem Video. Sie sei die Tochter einer Russin und eines Ukrainers, niemals habe es Feindschaft in ihrer Familie gegeben, sagte sie. Das, was in der Ukraine derzeit geschehe, sei ein Verbrechen, an dem allein Russlands Präsident Wladimir Putin schuld sei. Russland müsse diesen Krieg so schnell wie möglich beenden, forderte sie.

Owsjannikowa übte auch Selbstkritik. Jahrelang habe sie beim Ersten Kanal die Propagandapolitik des Kreml mitgetragen. Sie habe wie ihre Kollegen und Kolleginnen 2014 geschwiegen, "als alles begann", und später, als Alexej Nawalny vergiftet worden sei. "Das ist mir sehr peinlich", gestand sie.

Ein überaus mutiger Schritt, denn die persönlichen Konsequenzen für Owsjannikowa dürften sehr hart sein. Noch im Studio wurde die Mutter zweier Kinder festgenommen. Bürgerrechtsanwälte, die versuchten, Owsjannikowa zu besuchen, um sie zu verteidigen, haben lange keinen Kontakt zu ihr bekommen.

Nach fast 24 Stunden wurde sie erstmals einem Richter vorgeführt, vorerst wurde eine Ordnungsstrafe in der Höhe von 255 Euro verhängt. Die Angeklagte bekannte sich nicht schuldig. Allerdings hat das Ermittlungskomitee auch Vorermittlungen für ein Strafverfahren eingeleitet. Owsjannikowa könnte als eine der ersten Journalistinnen in Russland nach dem eilig verabschiedeten Fake-News-Gesetz verurteilt werden. Als Höchststrafe kann die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Haft fordern.

Schon jetzt ist auch ein Kampf um die Deutungshoheit der Protestaktion entbrannt: Der Duma-Abgeordnete Oleg Matwejtschew versuchte, die plakative Kritik als Performance "einer verrückten Fanatikerin, die zu viel Feindpropaganda gehört hat", abzutun. Andere kremlnahe Stimmen verwiesen auf ihre Herkunft aus Odessa und ihren ukrainischen Mädchennamen Tkatschuk, um Owsjannikowa als Verräterin zu diskreditieren.

Einheit als Fiktion

Ausgerechnet der radikale Schriftsteller Sachar Prilepin, Befürworter des russischen Imperialismus und Freischärler für die prorussischen Separatisten im Donbass, erkannte die Gefahr, die der TV-Auftritt für die Herrschenden beinhaltet. Es droht die Spaltung: "Bei uns im Fernsehen ist etwa die Hälfte des arbeitenden Personals Fan der Ausgüsse von Newsorow, treuer Zuhörer Wenediktows und begeisterter Leser des Buchs 'Der Tag des Opritschniks', grollte er.

Alexej Wenediktow ist Chefredakteur des kürzlich abgeschalteten liberalen Senders "Echo Moskaus", Alexander Newsorow einer der schärfsten Publizisten dort und Wladimir Sorokins "Der Tag des Opritschniks" ist eine Anti-Utopie über ein abgeschottetes, diktatorisch und bestialisch regiertes Russland, das angesichts der derzeitigen Entwicklung an erschreckender Aktualität gewinnt.

Umso euphorischer wurde Owsjannikowas Aktion von der liberalen Schicht in Russland aufgenommen. Sie gilt vielen Publizisten als Mutmacherin, zeigt sie doch, dass die vom Kreml beschworene Einheit Fiktion ist. Selbst innerhalb der russischen Elite gibt es großen Widerstand gegen den im engsten Umkreis von Putin beschlossenen Krieg. Die Verluste sind für zahlreiche Beamte, Manager und Geschäftsleute gewaltig. Aus Furcht vor Repressionen hat sich von diesen bisher kaum jemand geäußert. Doch die Mauer bröckelt – und Owsjannikowas Schritt dürfte diese Tendenz verstärken. Beim zum Gazprom-Imperium gehörenden Sender NTW kündigte am Montag die bekannte Nachrichtensprecherin Lilija Gildejewa und verließ unmittelbar danach Russland. Der Chef des Weltschachverbands Arkadi Dworkowitsch, einst Vizepremier und enger Vertrauter von Ex-Präsident Dmitri Medwedew, rief vorsichtig zu einer friedlichen Lösung in der Ukraine auf.

Ob die offensichtlicher werdende Spaltung Putin zum Einlenken bewegt, ist aber weiterhin fraglich. Gut möglich, dass die russische Führung in den nächsten Wochen ihren repressiven Kurs nach innen noch verstärkt, um die Kontrolle über die Lage nicht zu verlieren. (André Ballin aus Moskau, 15.3.2022)