Lässt sich aufgrund weniger Bilder die Weltenlage beurteilen? Natürlich nicht, oder: besser nicht. Sonst käme man angesichts der Fotos aus dem Élysée-Palast zu dem Urteil, die Grande Nation stünde knapp vor dem Fall: Der französische Präsident Emmanuel Macron, sonst in Slim-Fit-Anzug, gestärkten Hemden und perfekt rasiert, steht in seinem Büro, mit Dreitagebart, in Jeans und Hoodie. Mon dieu!

Unrasiert im Hoodie: So ließ sich Emmanuel Macron ...
Foto: Instagram / Soazig De La Moissonnière

Ob die Endlostelefonate mit Wladimir Putin und die langen Arbeitstage die schmalen Sakkos zum Folterinstrument werden ließen – sogar für einen französischen Präsidenten, der es gewohnt ist, in Schlips und Kragen Contenance zu wahren? Nun, womöglich in Teilbereichen. Vor allem aber erfüllen die Bilder natürlich einen anderen Zweck. Sie signalisieren: Hier ist ein Politiker, der in der größten europäischen Krise anpackt, der keine Zeit für Rasur und ordentlich gebundene Krawatten hat, der nahbar ist. Und so muss Macrons Auftrag an seine Haus- und Hoffotografin wohl so gelautet haben: "Soazig, kannst du das bitte fotografisch festhalten? Und dann raus damit auf Twitter und auf Instagram – wir sind nicht nur im Krieg, sondern auch im Wahlkampf!"

Soazig De La Moissonnière, seit fünf Jahren die offizielle Fotografin des Präsidenten, verstand natürlich. Die beiden sind ein eingeschworenes Team. Gemeinsam haben sie schon 2016 Macrons Kampagnen konzipiert. De La Moissonnière griff also am Sonntag (ein Präsident arbeitet auch am Wochenende!) zur Kamera und hielt ihren unrasierten Chef in Jeans und dunklem Hoodie mit aufgesticktem Logo der französischen Luftwaffe fest: "CPA 10" prangt auf seiner Brust, die Abkürzung steht für "Commando Parachutiste de l’Air no 10". Die Fotos wurden allerdings nicht auf den offiziellen Kanälen des Präsidenten, sondern auf dem Account seiner Fotografin veröffentlicht. "Damit suggerieren sie uns einen Behind-the-Scenes-Einblick", erklärt die Wiener Politikwissenschafterin Petra Bernhardt.

... der normalerweise Anzüge von der Stange trägt, im Élysée-Palast ablichten.
Foto: Instagram / Soazig De La Moissonnière

Nerd im Élysée-Palast

Auf den ersten Blick sah Macron aus wie ein strubbeliger Nerd, der sich aus der IT-Abteilung ins Büro des Präsidenten verirrt hat. Die Inszenierung im prunkvollen Ambiente des Salon Doré wirkte außerdem wie ein bewusst gesetzter Stilbruch à la Sofia Coppola. Die Regisseurin hatte Kirsten Dunst in ihrer Marie-Antoinette-Verfilmung durch Schloss Versailles laufen lassen, in Sneakern!

Solche Assoziationen wird der Franzose nicht im Sinn gehabt haben. Dann doch eher: Emmanuel Macron lässt sich als Staatsmann inszenieren, der sich für sein Volk aufreibt und auf beiläufige Art Macht demonstriert. "In der Krise inszenieren sich männliche demokratische Staatsoberhäupter volksnäher und als Gegenkonzept zu Putin", sagt Dirk Schulz vom Gender-Studies-Zentrum an der Universität Köln. Noch dazu wird am 10. April in Frankreich gewählt. Im Kapuzenpullover hat sich die Konkurrenz bisher nicht sehen lassen, weder Marine Le Pen noch Éric Zemmour oder Valérie Pécresse.

Der Kapuzenpullover, ein Stilbruch oder gar eine Zeitenwende in der Selbstdarstellung des Emmanuel Macron? In der Vergangenheit trugen Politiker die Uniform männlicher Tech-Mogule aus dem Silicon Valley maximal zum Joggen. Als die kanadische Politikerin Catherine Dorion vor einigen Jahren in Québec zur Nationalversammlung in einem orangefarbenen Exemplar erschien, löste das Stück eine emotionalisierte Debatte über angemessene Kleidung von Politikerinnen und Politikern am Arbeitsplatz aus.

Hat sich Macron das Outfit von Selenskyj abgeschaut?
Foto: IMAGO/Ukrinform

Das Vorbild für die lockere Inszenierung des Präsidenten? Ganz sicher nicht der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, der zuletzt im Schlabberpulli Interviews über den Wolken gab. Dann doch eher der heldenhafte, seit einigen Wochen in militärischem Olivgrün gekleidete Amtskollege aus der Ukraine, wurde im Internet gemutmaßt. Wolodymyr Selenskyj hat seinen Anzug am 24. Februar, dem Tag des Einmarschs Russlands, abgelegt. Seither haben sich seine Auftritte grundlegend geändert. Das Äußere ist den Umständen angepasst, der Anzug hat als Rüstung ausgedient. Selenskyj hat sich den Bart stehen lassen, er veröffentlicht Videos in khakifarbenen T-Shirts und Kapuzenjacken.

Wolodymyr Selenskyj hat seinen Anzug am 24. Februar abgelegt. Hier besucht er ein Krankenhaus in tarngrüner Kluft.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Politiker in Uniform

Dass männliche Politiker zur Uniform greifen, hat parteiübergreifend Tradition, vor allem in den USA. Donald Trump schlüpfte 2017 vor Soldaten in Japan in eine Fliegerjacke, Obama griff zum Modell Air Force One, George W. Bush trat 2003 in voller Kampfpilotenmontur auf, aber auch Markus Söder versuchte sich schon an einem bayerischen "Top Gun"- Auftritt. Neben der tarnfarbenen Funktionskleidung des ukrainischen Präsidenten wirken sie wie eine Maskerade. Morgens rein und abends raus aus der Uniform, das spielt es bei Selenskyj derzeit nicht.

Der Politiker vermittelt der Welt mit seinen Outfits: Ich bleibe hier, ich verteidige mein Land. Und ist seither so populär wie nie. "Selenskyj kommt so gut an, weil er als ehemaliger Schauspieler, als Staatsoberhaupt, als Familienvater und jetzt als Kämpfer für sein Land viele Formen von Männlichkeit anbietet", sagt Schulz. Zudem weiß er, wie man Botschaften klar und Social-Media-gerecht aufbereitet. Männliche Stereotype zu bedienen gehört offenbar dazu. So ist Selenskyj innerhalb kürzester Zeit inmitten des Krieges zu einer Art Popstar geworden.

Ein Porträt aus vergangenen Zeiten: Wolodymyr Selenskyj und Emmanuel Macron hatten schon 2019 einen ähnlichen Geschmack.
Foto: imago images/ITAR-TASS /Grigory Dukor via www.imago-images.de

Im Vergleich dazu, das wird dem französischen Premier klar geworden sein, sahen seine Anzüge mit einem Schlag so aalglatt wie abgehoben aus. Dabei gibt sich Emmanuel Macron seit seinem Regierungsantritt vor fünf Jahren alle Mühe, neben Ehefrau Brigitte, die gern in Louis Vuitton auftritt, volksnah zu erscheinen. Er trägt immerhin erschwingliche Anzüge von der Stange, meist Modelle in Blautönen vom französischen Unternehmen Jonas & Cie, sie kosten zwischen 340 und 380 Euro. Das ist keine Selbstverständlichkeit für einen, der zuvor Exklusiveres gewohnt war. Als Banker hatte Macron noch bei Lagonda, einem Pariser Schneider, Nadelstreifenanzüge für 800 bis 1.200 Euro geordert.

Die Reaktionen auf Macrons Kapuzenpullover mit dem Logo der französischen Luftwaffe fielen gemischt aus. Wen wundert das, wenn die Authentizität zu wünschen übrig lässt. Am Montag trat der Präsident im französischen Fernsehen wieder glattrasiert auf, eine Flüchtlingsunterkunft für Ukrainerinnen besuchte er in Anzug und blankpolierten Schuhen. Für ihn war der Hoodie wohl nicht mehr als eine Laune. (Anne Feldkamp, 16.3.2022)

Hinweis: Dies ist eine umfassendere, aktualisierte Version des am 15.3. erschienenen Artikels über Macrons legeres Outfit.