Slawistin Magdalena Kaltseis warnt in ihrem Gastkommentar vor der Instrumentalisierung der russischen Sprache.

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Sein Angriff auf die Ukraine spaltet die Gesellschaft im eigenen Land: Russlands Präsident Wladimir Putin.
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In Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Wochen, dem Angriffskrieg der russischen Armee auf die Ukraine, kristallisiert sich deutlich heraus, dass es sich bei diesem Konflikt nicht nur um einen physischen Krieg mit Waffen handelt, sondern um einen, der auch auf sprachlicher Ebene geführt wird. Damit ist einerseits die sprachliche Gewalt und die Hatespeech gemeint, die insbesondere von russischer Seite benutzt wird, um die gegnerische Seite zu diffamieren. Andererseits handelt es sich um einen Krieg der Sprachen, den ich näher erläutern möchte.

In einem kürzlich erschienenen Artikel berichtet Wladimir Kaminer, ein in Moskau geborener, aber in Deutschland lebender Autor, von Anfeindungen gegenüber Menschen, die im deutschsprachigen Raum die russische Sprache sprechen. So sei ein Mädchen in einer Berliner Schule als "Russenschlampe" beschimpft, und Bekannte von ihm seien aus einem Taxi geworfen worden. Beide Vorfälle hätten sich aus demselben Grund ereignet – diese Personen haben Russisch gesprochen.

Verbreitete Amtssprache

Dazu sollte man wissen: Russisch ist die Amtssprache der Russischen Föderation, und auch Wladimir Putin spricht diese Sprache. Russisch wird jedoch auch in zahlreichen anderen Ländern gesprochen, zum Beispiel in Belarus, Kasachstan und Kirgistan, wo es entweder die Amtssprache oder die offizielle Sprache ist. In der Ukraine hat Russisch den Status einer Regional- beziehungsweise Minderheitensprache. Auch in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Kanada und sogar Australien sprechen viele Menschen Russisch. Wenn diese Menschen als Folge des Krieges beschimpft und diskriminiert werden, weil sie die russische Sprache sprechen, dann würden sie sprachlos gemacht – nur aus dem einen Grund, dass sie dieselbe Sprache wie der russische Präsident oder die russischen Fernsehpropagandistinnen und -propagandisten sprechen.

Eine mögliche Reaktion darauf wäre nun zu sagen, dass daran nichts falsch sei, denn schließlich führt Russland gegen die Ukraine Krieg und somit sei Russisch die Sprache des Aggressors, die Sprache des Feindes. Aber ist Russisch wirklich die "Sprache des Feindes"?

Rechtfertigung von Aggression

Wenn sich derartige Vorstellungen durchsetzen, hat die russische Propaganda ihre gewünschte Wirkung erzielt – mehr noch, sie sieht sich in der von ihr propagierten dichotomen Weltsicht bestätigt: Eine ihrer zentralen Behauptungen und Legitimierungen für den Einmarsch in die Ukraine lautet, dass die Menschen dort nicht Russisch sprechen dürfen und ein Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung verübt werde, weshalb Russland diese retten müsse. Das heißt, die russische Propaganda vereinnahmt die russische Sprache beziehungsweise ihre Sprecherinnen und Sprecher für sich, stellt sie als der Russischen Föderation zugehörig dar und rechtfertigt das aggressive Vorgehen in der Ukraine damit, dass diese Menschen beschützt und verteidigt werden müssten. Das Gegenteil ist jedoch faktisch der Fall: Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind zwei- oder mehrsprachig, sie sprechen sowohl Russisch als auch Ukrainisch oder eine Mischform (Suržyk) beider Sprachen. In den letzten Jahren gab es von politischer Seite immer wieder Bestrebungen, den Status und die Rolle des Ukrainischen mithilfe von Gesetzen zu stärken.

Um eine "Jagd auf Russischsprachige", wie in den staatlichen russischen Medien skandiert wird, handelte es sich dabei auf keinen Fall. Die russische Sprache wird von der russischen Propaganda für ihre Zwecke instrumentalisiert. Indem nun im deutschsprachigen Raum russischsprachige Menschen tatsächlich beschimpft, stigmatisiert und somit in gewisser Weise "gejagt" werden, wird den Parolen der Propaganda ein fruchtbarer Nährboden geboten, und ihre Behauptungen werden zur traurigen Wahrheit.

Sprache verbindet

Richtig, Putin spricht zwar Russisch, aber es ist nicht seine Sprache. Denn es ist auch die Sprache so vieler Menschen, die gegen den Krieg sind und öffentlich gegen seine Politik auftreten. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Russischen Föderation ist das Sprechen der russischen Sprache daher keinesfalls als Ausdruck der Unterstützung der Politik des Kremls und des Krieges in der Ukraine zu werten. Im Gegenteil: Russisch ist auch die Sprache des Protests gegen das Regime.

Sprache – und das ist ja gerade das Schöne an ihr – ist nicht Teil von uns, sondern wir alle teilen sie. Sie ist etwas, das zwischen uns ist, das uns verbindet. In diesem Sinne trägt Sprache nicht zur Trennung, sondern zur Verständigung und dem gegenseitigen Verständnis von Menschen bei.

Russisch lernen!

Russisch ist wie alle anderen Sprachen der Welt in erster Linie ein Kommunikationsmittel, das von niemandem vereinnahmt werden kann und darf – schon gar nicht zur Legitimierung eines Krieges. Die Propaganda macht es trotzdem oder gerade deshalb, weil sie um die hohe emotionalisierende Kraft von Sprache weiß und diese bewusst für ihre Zwecke nutzt. Tun wir ihr also keinen Gefallen, indem wir aufhören, Russisch zu sprechen, es zu unterrichten, es zu lernen.

Kein Mensch sollte sich dafür schämen müssen, Russisch zu sprechen, oder dafür gar beschimpft oder ausgegrenzt werden. Gerade jetzt sollten wir umso intensiver Russisch lernen und sprechen, diese Sprache weitertragen und sie für uns beanspruchen – zum Ausdruck des Protests gegen den Krieg und der Solidarität mit all jenen, die gegen die schiere Machtlosigkeit, gegen das Leid und gegen den Hass in der Welt ankämpfen. Damit nehmen wir der Propaganda den Wind aus den Segeln und entziehen ihr jegliche Legitimation. (Magdalena Kaltseis, 17.3.2022)