Bei einer Unterstützungskundgebung für Yvan Colonna schwenken die Protestierenden die korsische Flagge.

Foto: Pascal POCHARD-CASABIANCA / AFP

Auf der Mittelmeerinsel war es in den vergangenen Tagen zu schweren Ausschreitungen gekommen.

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Die "Insel der Schönheit" ist seit zwei Wochen in Aufruhr. Auslöser war ein schwerer Zwischenfall in einem Gefängnis der Camargue-Stadt Arles. Der korsische Nationalist Yvan Colonna, der wegen des Mordes an dem früheren Inselpräfekten in Haft ist, wurde von einem islamistischen Mithäftling bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt. Seither liegt der 61-jährige Schafhirt im Koma.

Die bekannteste Figur der korsischen Separatisten hatte – laut Geständnis von zwei Komplizen – den vom Staat delegierten Präfekten Claude Er Ignac 1998 in Ajaccio auf offener Straße erschossen. Nach vier Jahren Flucht wurde der Nichtgeständige in einer Schäferei des korsischen "Maquis" (Buschland) gestellt und zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt.

Anfang März äußerte er sich dem Vernehmen nach abschätzig über die Religion eines Mithäftlings, der wegen jihadistischer Aktivität in Afghanistan eine neunjährige Haftstrafe verbüßt. Der 36-jährige Kameruner griff ihn in einem unbewachten Moment außerhalb der Zelle an und schlug ihn brutal zusammen, bevor er ihn zu erwürgen suchte. Colonna, der in Haft geheiratet und seither ein zweites Kind hat, ringt seitdem mit dem Tod.

Schwere Krawalle

Der Angriff löste auf Korsika umgehend Protestdemos mit mehreren Tausend Beteiligten aus. Es folgten schwere Krawalle. In der Stadt Bastia gingen auch öffentliche Gebäude in Flammen auf. In einer einzigen Nacht wurden über 70 Personen, darunter 44 Polizisten, teils schwer verletzt. Eine herbeigerufene Polizeiverstärkung musste auf dem Seeweg zur Insel umkehren, da nationalistische Docker den Fährhafen blockierten.

Die religionspolitische Komponente der Haftattacke dürfte bei den Ausschreitungen nur am Rande mitgespielt haben, obwohl es in Korsika seit Jahren immer wieder zu Spannungen zwischen ortsansässigen Korsen und muslimischen Zugewanderten kommt. Die Wut der Demonstranten richtete sich in erster Linie gegen den französischen Staat. Dieser trage wegen seiner jahrelangen Weigerung, Colonna in ein korsisches Gefängnis zu überführen, eine "erdrückende Verantwortung" für die Tat, erklärte Gilles Simeoni von der Nationalistenpartei Femu a Corsica.

Überführung nach Korsika

Die Regierung in Paris, die völlig auf den Präsidentschaftswahlkampf fixiert ist, wurde durch den impulsiven Charakter des Gewaltausbruchs auf dem falschen Fuß erwischt. Premierminister Jean Castex konnte nicht anders als die Forderung der Separatisten zu erfüllen: Zwei Mittäter des Erignac-Mordes können nun in eine korsische Haftanstalt überführt werden.

Dieser Entscheid hat die Lage aber nur halbwegs beruhigt. Innenminister Gérald Darmanin geht deshalb noch einen Schritt weiter: Vor seinem Besuch der Insel am Mittwoch erklärte er, die Staatsführung sei "bereit, bis zur Autonomie zu gehen". Er selbst wolle mit Simeoni einen "institutionellen Dialog" dazu aufnehmen. Französisch-Polynesien im Südpazifik verfüge zum Beispiel schon heute über ein Sonderstatut, führte der Minister aus, um anzufügen: "Das eröffnet Möglichkeiten".

Sollte Macron gewinnen

Simeoni begrüßte Darmanins Ankündigung, auch wenn er mit einem gewissen Misstrauen erklärte: "Wir haben noch nicht gesiegt." Darmanin stellte die Autonomiegespräche für die zweite Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron in Aussicht. Dessen Wahlsieg ist gut möglich, aber nicht garantiert. Der Hinweis auf die kommende Amtszeit darf auch als Wink an die Nationalisten verstanden werden, für Macron einzulegen.

Das Lager der Separatisten ist allerdings auch deshalb skeptisch, weil Darmanin nur Polynesien erwähnte, nicht aber Neukaledonien. Dieses Tropenarchipel östlich von Australien verfügt über eine wirkliche Autonomie mit eigenem Parlament und Budgetkompetenzen. Polynesien bleibt dagegen auch finanziell völlig abhängig von Paris.

Darmanins Ankündigung zeugt zumindest von einem Umdenken des französischen Zentralstaats, der sonst gern alles über einen Leisten schlägt. Indem er erstmals das Wort Autonomie im Zusammenhang mit Korsika benützt, breche er ein "Tabu", kommentieren Pariser Medien. Mit einer Autonomielösung wäre sicher allen Seiten gedient. Die Korsen wären dazu gezwungen, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Heute leben auch sie in erster Linie von den Zuwendungen des sonst so verhassten französischen Staats. Bis sie selber eine Wirtschaftskraft erreichen, wie sie die Autonomisten in Katalonien oder dem Baskenland erreicht haben, ist allerdings für Korsika noch ein weiter Weg – Autonomie hin oder her. (Stefan Brändle aus Paris, 16.3.2022)